Bereits die 11. Auflage, für uns tatsächlich aber eine Neuentdeckung: Das Herzgrün-Festival im Berliner Sony Center lockte am letzten März-Wochenende mit einer spannenden Auswahl an (noch) weitgehend unbekannten aber sehr vielversprechenden Musik-Acts. Wir haben uns einen der drei Abende herausgepickt und uns die Veranstaltung einmal angesehen.
Festival? In den meisten Fällen verbindet man mit dem Begriff zunächst einmal etwas anderes. Auf den ersten Blick wirkte das Ganze nämlich eher unspektakulär. Die beiden kleinen Kunststoff-Gewächshäuser, in denen die Konzerte stattfinden sollten, und der noch kleinere, weiße Info-Pavillon wirken unter der gewaltigen Dachspindel beinahe ein wenig verloren und fielen kaum auf. Zusätzliche Getränke- oder Essens-Stände, wie man sie sonst von Open Air Festivals gewohnt ist? Fehlanzeige. Stattdessen drumherum das an dieser Stelle übliche Gewusel von Kinogängern, Museumsbesuchern, Geschäftsleuten und Touristen. Dass sich das Ganze mehr oder weniger unauffällig in den Normalbetrieb einfügt, gehört allerdings zum Konzept, denn Veranstalter ist die Werbegemeinschaft Sony Center GbR, also sozusagen die PR-Abteilung des Hauses und der dort ansässigen Firmen, Institutionen und Gastronomen. Diese unterliegen einem gewissen „Kulturzwang“, das heißt, sie müssen eine bestimmte Summe im Jahr für kulturelle Veranstaltungen aufwenden, wie uns Damaris Schmitz von der Agentur Artefakt, die das Festival organisiert und durchführt, erklärte. Neben dem Festival gibt es im Sommer noch eine Kunstausstellung, im Winter finden Lesungen statt, beides ebenfalls bei freiem Eintritt. Doch zurück zum Herzgrün:
Die beiden Gewächshäuser waren unterschiedlich gestaltet, sowohl was die Pflanzendeko als auch die Anordnung von Bühne und Zuschauerbereich anging. So unscheinbar das Ganze in beiden Fällen von außen wirkte, so stimmungsvoll war das Ambiente im Inneren. Während drumherum der alltägliche Trubel weiter ging, fühlte man sich gleich beim ersten Konzert des Abends im „Haus Veronika“ wie in einer kleine Oase der Ruhe, was neben dem betörenden Blumenduft natürlich auch an der Performance der jungen Songwriterin JOHANNA AMELIE und ihrer Band lag, deren irgendwo zwischen Folk und Pop changierenden Songs das Publikum andächtig lauschte. Durch die Enge – der kleine Raum war mit etwa 100 Leuten bis auf den letzten Stehplatz gefüllt – und die dadurch bedingte Nähe zwischen Musikern und Publikum entstand tatsächlich diese „ganz besondere Atmosphäre“ mit der das Festival nicht umsonst wirbt.
Dieses besondere Flair war auch beim anschließenden Konzert von VIOLET SKIES im „Haus Vergissmeinnicht“ spürbar. In ihren Klangwelten deutlich elektronischer angehaucht, vermochte es die aus Wales stammende Sängerin mit ihrer elfenhaften Erscheinung und ihrer kraftvollen wie nuancierten Stimme die Anwesenden von Beginn an in ihren Bann zu ziehen. „Too widescreen, sensuous and evocative to be contained by the word cinematic“ und „Melodies a forgetful milkman could whistle“ urteilen die englischen Kollegen von BBC Radio über ihre Musik. Vielleicht ein wenig sehr euphorisch, aber uns hat es auch sehr gut gefallen und ja, die Dame sollte man im Auge behalten.
Ganz anders dann wieder – an gleicher Stelle – das darauf folgende Set von VIVIE ANN. Die aus Hamburg angereiste Künstlerin ging um einiges rockiger zu Werke und ihre Folkpop-Songs erinnerten jetzt nicht unbedingt von der Stimme aber zumindest in der Machart stellenweise ein wenig an AMY MACDONALD. Zusätzlich zur Unterstützung durch einen Keyborder und einen Gitarristen begleitete sie sich selbst anstelle eines Schlagzeugs mit allerlei Percussion. Neben einer Stand-Tom und einem Schellenring kam dabei sogar eine kleine Schreibmaschine zum Einsatz. Erfrischend ungewöhnlich aber auch ungewöhnlich erfrischend. Die gute Laune, mit der VIVIE ANN ihre Musik präsentierte, ließ den Funken schnell überspringen. Dabei hatte man zwischenzeitlich eigentlich das Gefühl, die Künstlerin und ihr Publikum verstünden sich eigentlich gar nicht, denn die in den Song-Ansagen immer wieder gestellte Frage „kennt Ihr eigentlich dieses Gefühl…?“ entwickelte sich im Laufe des Konzerts mangels bestätigender Resonanz zum vielbelachten Running Gag.
Richtig laut und druckvoll wurde es dann anschließend im „Haus Veronika“. Die junge Berliner Formation EVELINE, die erst vor kurzem ihre Debüt-EP „Scared“ veröffentlicht hatte, wäre jedoch beinahe gar nicht aufgetreten. Etwa zwei Wochen vor dem Festival war dem Quartett der Band-Bus mit allem darin befindlichen Equipment geklaut worden. Gottseidank erklärten sich befreundete Musiker bereit, für die unmittelbar anstehenden Gigs Leihinstrumente zur Verfügung zu stellen. Auch mit dem teilweise ungewohnten „Werkzeug“ und ohne die Möglichkeit, im Vorfeld noch einmal zu proben, überzeugten EVELINE vom ersten Ton an. Die vielseitige und dennoch irgendwie eigenständige Mischung aus Elektropop, Rock und Soul und das Wahnsinns-Organ von Sängerin Lisa Kögler sind live wirklich extrem mitreißend und zu recht erntete die Band an diesem Tag im Vergleich die größten Beifallsstürme. Ganz klar das Highlight des Tages! EVELINE stehen erst am Anfang, aber da ist mit Sicherheit noch Großes zu erwarten. Eigentlich hatten die vier für den Sommer eine Deutschlandtour geplant, die aber aus nachvollziehbaren Gründen nun zunächst auf Eis gelegt werden muss, denn momentan müssen die Berliner erst einmal um die Wiederbeschaffung ihrer Ausrüstung kämpfen. Wer die Band dabei unterstützen möchte, findet hier den Link zu ihrer Crowdfunding-Kampagne. Schaut mal rein, das Geld ist mit Sicherheit nicht verschwendet, es gibt nette Goodies und wirklich jeder Euro hilft.
Den – wieder etwas leiseren – Abschluss des Festival-Samstags bildete für uns das Konzert des Duos CAROLIN NO im „Haus Vergissmeinnicht“. Andreas und Carolin Obieglo leben in der Nähe von Würzburg und sind, wie es der gemeinsame Nachname vermuten lässt, nicht nur auf der Bühne ein Paar. Zusammen haben sie bereits fünf Studioalben veröffentlicht, das letzte, „Ehrlich gesagt“, wurde erstmals komplett in Deutsch eingesungen. Der Text des darauf enthaltenen Stücks „Lovesong“ fand sogar Eingang ins Deutschbuch für die 9. Klassen der bayerischen Realschulen, das Andreas mit augenzwinkerndem Stolz auf der Bühne präsentierte. Dennoch lassen die beiden sich nicht auf eine Sprache oder musikalische Stilrichtung festlegen. Mit Charme und Selbstironie ob einiger Verständigungsschwierigkeiten bei den bayrischen Ansagen, vor allem aber mit ihren mal leichten, mal tiefgründigen Songs schafften sie es, das Berliner Publikum bis zum Ende zu fesseln. Ein wunderschöner Schlusspunkt für einen abwechslungsreichen Festival-Abend.
Alles in allem hat uns das Konzept des Herzgrün-Festivals wirklich überzeugt. Die große Bandbreite an spannenden Künstlern, die freundliche Security und vor allem auch das einzigartige Setting machen die Veranstaltung zu einem echten Tipp für den schubladenfreien Musikliebhaber. Der intime Rahmen, in dem man die Konzerte erlebt, und die durch die Glaswände sichtbare, vor allem im Dunklen beeindruckende Kulisse des Sony Centers vereinigen sich zu einer ganz besonderen Musikerfahrung, für die man, auch das sei noch einmal erwähnt, nicht einmal Eintritt bezahlen muss. Wir kommen definitiv wieder!