Die Datenfelder des Internets sind geduldig und auch Video-Abrufzahlen sagen nicht immer etwas über Qualität aus, denn Netzfakten sind immer auch igendwie „alternative Fakten“. Zeit also, sich den jungen kanadischen Youtube-Star Daniela Andrade live anzusehen! Am 19.5. war es im Frannz-Club in Berlin soweit.
Der Rahmen war schön und ganz „Sommerabend“: die Tore des Frannz Clubs weit in alle Richtungen geöffnet, fand auf dem umgebenden Gelände der Kulturbrauerei an der Schönhauser Allee (U Eberswalder Straße) auch gerade der wirklich leckere Food Market statt, dessen Essens- und Trinkensbeute man dann auch noch in Räumen und im Freigelände des Clubs verzehren darf – der Autor dieser Zeilen war also bester Laune, ebenso wie das Frannz-Team, das nett und entspannt empfing.
Gemütlich ging es also dann in den Konzertraum. Vorband bzw. -sänger Tim Atlas (amerikanischer NBC-„The Voice“-Kandidat 2015 aus der San Francisco Bay Area) war gut gewählt und harmonierte genretechnisch wunderbar mit dem Hauptact. Auch persönlich stimmte die Chemie zwischen den beiden, wie er bei einem kurzen späteren Auftritt im Hauptprogramm beweisen durfte. Sicherlich kein schlechter Weggefährte, wenn man wie Daniela am Anfang seiner ersten großen Europatournee steht…
Die Pause nach dem relativ kurzen Auftritt ließ sich dann wiederum zum Auffüllen der Getränkereserven zum Beispiel beim Auschank im Hof nutzen und der Großteil des Publikums traf auch erst jetzt ein, so dass sich mit ca. 200 ZuschauerInnen jeden Alters ein Zustand zwischen „gut gefüllt“ und „ausverkauft“ einstellte. Eine Internetkarriere über neun Jahre hat also durchaus das Potential, eine reale Live-Zuschauerschaft vor die Bühne zu locken, die kaum über die traditionellen Medien von ihrem Star erfahren haben dürfte.
Und diese Zuschauer erlebten eine sparsam in Szene gesetzte Künstlerin: keine Band, kein Nebel, wenig elektronische Effekte auf dem Kanal ihrer elektrisch verstärkten Akustik-Gitarre, sie selbst zwischen eigenem Kichern, Freude und den Erwartungen des Publikums, ebenso auf der Suche nach ihrem Weg, wie es auch der zuständige Tontechniker war, denn ihre Bandbreite von leise bis laut war sehr groß, was zunächst zu leichten Übersteuerungen bei den lauten Parts führte.
Dies spielte sich jedoch ein, so dass das „Pure“ des Auftritts gut rüberkam: Die sensiblen Eigenkompositionen der zarten Kanadierin mit asiatischem Einschlag waren gemischt mit Cover-Songs, die aber immer zum Grundgefühl passten. Sie selbst eher schüchtern und zurückhaltend, völlig ohne Star-Allüren, ohne abgenutzte Posen, ohne eine brav auswendig gelernte Phrase in Deutsch, aber dennoch mit einem Draht zum Publikum und zu einer gemeinsamen Freude am Klang und den Erzählungen der Songs.
Die Mischung von eigenen und Cover-Songs war gut ausgewogen. Neben den Youtube-Klickhits wie „Crazy“ von Gnarls Barkley, die natürlich bei den ersten Akkorden erkannt wurden und sicherlich auch eine Rolle als Publikumsmagnet gespielt hatten, breiteten auch die Eigenwerke wie „Where is my Mind?“ ihren Zauber aus und schlugen mit viel Gefühl performt in ihren Bann. Hier lauscht einfach ein sensibler Mitmensch auf das, was seine Seele ihm beziehungsweise ihr mit Musik und Worten mitteilen möchte, und das lädt dazu ein, mitzulauschen…
Ein wiederkehrendes Motiv in ihren Texten waren denn auch menschliche Beziehungen, beziehungsweise deren Scheitern, wie etwa in dem mit Tim Atlas zusammen performten Song „Dark Coffee“, der trotz Sommerabend in die Winterzeiten der Seele entführte:
Cause it was gold the way that we'd shine on the coast but I felt small beside all the things that you wanted the currents they rose and they found me alone the currents they rose and found me alone
Sie fasst hiermit in poetische Worte, was man sachlicher als Verzwecklichung des Menschen in der Postmoderne bezeichnen könnte – es zählt nicht mehr Nähe und wer Du bist, sondern nur noch, welche Leistung Du für mich erbringst. Eine Erfahrung, die Menschen ja nicht nur im kühlen Kanada machen…
Doch auch hier wurde es zum Glück niemals unangenehm, esoterisch-therapeutisch oder predigend – vielmehr ganz offen: „Any Questions?“ fragte Daniela ihre Fans denn auch einfach knapp von der Bühne herunter, um die eher oberflächlichen Fragen, z.B. ob ihr Berlin gefällt, artig aber unverbindlich zu beantworten.
Weitere Berichte aus Ihrer Seelenwelt folgen mit „I wish I knew myself“, „Badly Programmed“ und „Why does it feel so good when it hurts“ – Songs, in denen sie ihren Umzug vom heimatlichen Quebec nach Montreal verarbeitet, mit dem intensive Depressionen verbunden waren – ein Umstand, der sie noch heute 50% der Einnahmen aus dem Merchandising an psychologische Hilfseinrichtungen spenden lässt.
Nach knapp einer Stunde beendet sie dann schon den Abend mit der Zugabe: „Creep“ von Radiohead mit der tief empfundenen und von ihr singend verträumt gestreichelten Zeile „I don’t belong here“. Gänsehautfeeling!
Dann ging auch schon unvermittelt und bar jeder weiteren Zugabe das Putzlicht und die Konservenmusik an – ein Umstand, der mich als zahlenden Gast der nicht ganz billigen Tickets dann schon unmütig gestimmt hätte. Das Publikum hier wandte sich aber brav der Bar zu oder entströmte der Venue, was sicher auch damit zu tun hatte, dass die Videospeicher der mitgebrachten Gadgets nun gefüllt waren und auf den Upload bei Youtube warteten, nachdem man vorher teils durchgängig draufgehalten und mitgefilmt hatte. Erwartungen also erfüllt – schöne neue Postmoderne!
Als Fazit des Abends lässt sich sagen, dass hier das Zurechtfinden in der Welt das Thema ist: eine Künstlerin auf dem Weg zu sich selbst. Es bleibt spannend, was sie weiterhin von diesem Weg zu berichten hat. Auch und gerade weil Daniela Andrade sicherlich mehr als Sprecherin ihrer Generation taugt als deutsche Youtube-Stars (Bibi – How it is (wap bap) *Klick auf eigene Gefahr *fg*), dürfte sie auch mehr gefährdet sein sich zu verirren – was in einer Woche in der mit Chris Cornell nach Kurt Cobain eine weitere Stimme einer Generation Selbstmord begangen hat, besonders offensichtlich wird. Überlegen wir uns also, was wir von unseren Stars -aber auch Mitmenschen- so erwarten…