Grenzenloses Wachstum ist nicht alles. Während Politik und Wirtschaft diese Erkenntnis nach wie vor nur unzureichend beherzigen, hat das Rudolstadt Festival reagiert, nachdem man nach immer neuen Zuschauerrekorden im letzten Jahr an die Kapazitätsgrenzen der Veranstaltung gelangt war.
So schrieb etwa nach dem letztjährigen Festival auch der Kollege Kai Diekmann in der ZEIT, er wünsche diesem „unvergleichlichen Festival“, dass es „leben aber bitte nicht weiter wachsen“ möge. Und auch der Bürgermeister sah eine Grenze erreicht. Stadt und Festival-Team mussten also umsteuern. Probleme hatte es vor allem immer wieder durch punktuelle Überfüllungen gegeben, die durch die hohe Anzahl an Besuchern verursacht wurden, die mit Tageskarten nur für ein bestimmtes Konzert angereist waren. Logische Konsequenz war, die Tageskarten gänzlich zu streichen beziehungsweise auf die nur für die Innenstadt gültigen Schnupperkarten zu reduzieren. Der Effekt war deutlich sicht- und spürbar. Endlich konnte man im Heinepark wieder frei atmen und die Atmosphäre genießen, ohne sich auf der ganzen Breite nur noch durch Menschenmassen drängeln zu müssen.
Donnerstag
Aber nicht nur die Ticket-Politik seitens des Festivals, auch das Wetter wartete in diesem Jahr mit einer Neuerung auf. Eigentlich ist man es ja eher gewöhnt, dass man sich ein Wochenende lang totschwitzt und einen gehörigen Sonnenbrand holt, bevor sich das ganze am Sonntag in einem großen Donnerwetter entlädt. Diesmal stellten die Wettergötter das Programm kurzerhand auf den Kopf und ließen bereits am späten Donnerstagnachmittag, schon vor dem ersten Konzert, ein Unwetter auf das Festival niedergehen. Leider zog sich das schlechte Wetter bis in den Abend, so dass das Eröffnungskonzert von YAEL DECKELBAUM & THE PRAYER OF THE MOTHERS ENSEMBLE im strömenden Regen stattfinden musste. Aber der erfahrene Rudolstadt-Besucher ist ja wetterfest und bestens ausgerüstet. So war der Platz vor der großen Heineparkbühne auch gut gefüllt und YAEL und die Band wurden vom Publikum zu Recht für ihre Musik aber auch für ihr Friedensengagement im Nahen Osten gefeiert. Entgegen allen Befürchtungen hörte der Regen kurz danach auf und die beiden anderen Bands des Eröffnungsabends, STEVE EARL & THE DUKES und die katalanischen Stimmungskanonen TXARANGO, konnten ihre Auftritte im Trockenen absolvieren.
Freitag
War der Donnerstag mit seinem überschaubaren Programm kein Problem, so stand man spätestens am Freitagnachmittag vor der so typischen Rudolstadt-Frage: Wohin? Burg? Innenstadt? Oder doch Park? Egal wie man es macht, macht man es falsch, denn man verpasst unweigerlich all die tollen Künstler, für die man sich nicht entschieden hat.
Unsere Wahl fiel zunächst auf die inzwischen in Berlin beheimatete Neuseeländerin TERESA BERGMAN, die ihre Songs schön rockig und mit viel Charme auf der Theaterplatz-Bühne präsentierte. Weiter ging es dann auf der Burgterrasse, mit einem Konzert im Rahmen des diesjährigen Länderspecials. Die Runengesänge der Estin MARI KALKUN, die sie auf der Kannel, einer traditionellen Zither begleitete, wurden bei diesem Auftritt verstärkt und untermalt von der finnischen Gruppe RUNORUN. Deren Frontfrau MAIJA KAUHANEN, die man unter anderem von OKRA PLAYGROUND kennt, spielte dabei auf der der Kannel sehr verwandten Kantele. Wunderschöne, hochklassige Klänge aus dem Norden, zu denen man sich gemütlich ins Festival schaukeln konnte.
Nun trennten sich allerdings die Wege unserer Reisegruppe: Während die einen auf der Burg blieben, um den Auftritten von OMAR SOSA & SECKOU KEITA und der großartigen MUNADJAT YULCHIEVA zu lauschen, zog es andere in den Park. Dort konnte man unter anderem die polnische Streetfolk-Kapelle HAŃBA! erleben Herrlich schnoddrig-punkig und mit viel Energie überzeugten sie das Zuschauer vor der Konzertbühne gleich von Beginn an. Ebenfalls sehr mitreißend war der Auftritt von ELIDA ALMEIDA. Die neue große Stimme von den Kapverden bezauberte nicht nur mit ihrem Gesang. Der arme junge Mann, den sie aus dem Publikum zum Dance-Contest auf die Bühne bat, hatte, zumindest was die Beweglichkeit im Beckenbereich anging, jedenfalls nicht den Hauch einer Chance. Etwas ruhiger, aber durchaus beschwingt ging anschließend der schwedische Folk-Altmeister ALE MÖLLER zu Werke, der mit seinem Ensemble auf der Konzertbühne ein sehr jazziges Set zum Besten gab.
Politisch wurde es dann mit MASHROU‘ LEILA. Die Band zählt zu den momentan mutigsten künstlerischen Stimmen der arabischen Welt. Sänger , nicht umsonst oft als der „libanesische Freddy Mercury“ beschrieben, lebt offen schwul – allein schon das ist den dortigen Sittenwächtern, on muslimisch oder christlich, mehr als ein bloßer Dorn im Auge. Aber MASHROU‘ LEILA nehmen nicht nur in dieser Hinsicht in ihren Texten kein Blatt vor den Mund: Ob korrupte Politiker oder Gewalt gegen Frauen, scheuen sie sich nicht, die wirklich heißen Eisen anzufassen. Auftrittsverbote oder Verhaftungen von Konzertbesuchern in verschiedenen arabischen Ländern waren die Folge. Trotzdem oder vielmehr genau deshalb hat die Band inzwischen eine große weltweite Fangemeinde. Ihre Songs changieren zwischen arabischer Tradition und westlichem Indie-Pop, zwischen Balladen und Stadionrock – eine Mischung, mit der sie auch das Rudolstädter Publikum begeisterten.
Akustisch schwere Kost hingegen war das abendliche Konzert von MAARJA NUUT auf dem Neumarkt. Minimale Elektronik, sehr unterkühlte Töne und viel gesprochener Text zwischen den Gesangspassagen machten den Zugang zu ihren durchaus faszinierenden Klanglandschaften für die Zuhörer nicht einfach. Zudem hatte die junge Estin ständig mit technischen Problemen und einem nicht gerade ideal abgemischten Sound zu kämpfen. Währenddessen wurde der Auftritt ihrer Landsleute CURLY STRINGS zusammen mit den THÜRINGER SYMPHONIKERN oben im Burghof vom Publikum zurecht gefeiert. Das Konzert mit dem Orchester zählen ja sowieso in jedem Jahr zu den Höhepunkten.
À propos Höhepunkt. Der wohl größte des gesamten Wochenendes für uns folgte anschließend auf der großen Bühne im Park. Was die beiden Gruppen LE VENT DU NORD und DE TEMPS ANTAN da abfackelten, war ein wahres Feuerwerk aus keltischer Tradition und franko-kanadischer Lebensfreude. Immer, wenn man dachte, es geht nicht schneller, wussten die Fiddler André Brunet, Olivier Demers und David Boulanger noch einen draufzusetzen. Ganz ganz großes Kino! Und auch die Mitsing-Parts funktionierten, zumindest dann, als die Band dem Publikum gestattete, es lieber in „internationalem Französisch“ zu versuchen – „lalala“. Auch am nächsten Tag, beim Künstler-Gespräch im Schminkkasten, und bei ihren Einzelkonzerten begeisterten die beiden Gute-Laune-Garanten aus Québec die Zuhörer.
Samstag
Der Samstag ist traditionsgemäß der am dichtesten gepackte Tag beim Rudolstadt-Festival. Los ging es bei uns nochmal mit den CURLY STRINGS. Die Esten wussten auch ohne Orchester und in der glühenden Mittagssonne zu begeisterten. Mit dem Länderspecial ging es dann auch im Park weiter, obwohl dies nicht auf den ersten Blick oder das erste Hinhören ersichtlich war. Hätte man es nicht gewusst, man hätte die BOMBILLAZ überall hingesteckt, nur nicht nach Estland. Statt nordischen Klängen gab es nämlich eine wilde Mischung aus Roots-Reggae, Reggaeton, Raggamuffin, Afro-Tribal, indischem Bhangra und modernem Dancefloor-Clubsound. Absolut partytauglich! Die vielen tanzenden Füße ließen denn auch eine große Staubwolke vor der Konzertbühne aufsteigen. (Staub? War da am Abend vorher nicht irgendwas mit Regen?)
Etwas ganz Besonderes war dann der Auftritt von GANES, die wiederum unten auf der Konzertbühne spielten. Die Gruppe um die beiden Südtiroler Schwestern Marlene und Elisabeth Schuen singt in Ladinisch, einer vor allem in der Region um Wengen noch verbreitet gesprochenen Gruppe von romanischen Dialekten. In ihrer Heimat werden sie dafür sowohl gefeiert als auch angefeindet, letzteres hauptsächlich wegen ihres zeitgemäßen Pop-Sounds und der Verwendung von modernen Tools wie beispielsweise Drumcomputern. Auf Elektronik verzichtete die Band in Rudolstadt jedoch vollkommen. Der Unplugged-Auftritt geriet allerdings sogar noch etwas minimalistischer als geplant, denn Marlene hatte wegen Krankheit kurzfristig absagen müssen. So bestritt die hochschwangere Elisabeth das Konzert alleine mit der Bassistin Natalie Plöger und Nick Flade am Klavier, was dem Ganzen aber keinen Abbruch tat. Auch ohne ihre Schwester schaffte sie es, mit den leisen Balladen und ihrer schönen Stimme das Publikum gänzlich zu verzaubern. Ein besonderer Gänsehautmoment war das Duett mit dem syrisch/palästinensischen Musiker Aeham Ahmad (AHMAD KNECHT TRIO).
Weiter ging es zur großen Parkbühne. Hier jammerte das Musikotografenherz schon beim Anblick der vier leeren Stühle. Sitzende Musiker geben meist schon an sich motivtechnisch nicht viel her und auf einer so großen Bühne wirken sie meist etwas verloren auf den Bildern. Nach dem ersten A-Cappella-Song des irischen Quartetts LANKUM wusste man, dass es sogar noch schlimmer war. Oder wie es ein Kollege knurrend auf den Punkt brachte: „Na toll, nicht nur vier Leute die sitzen, auch noch vier Leute, die nichts tun.“ Showtechnisch gab die Band tatsächlich nicht viel her. Um so größer war aber der Hörgenuss. Mit ihren meist düsteren Liedern und ihr rauen und erdigen Stil pflegen sie die reiche, aber in letzter Zeit oft etwas vernachlässigte Folksong-Tradition ihrer Heimat, was ihnen von Seiten des altehrwürdigen Guardian nicht umsonst das Kompliment eingebracht hatte, „die überzeugendste Folkband aus Irland seit Jahren“ zu sein. (Übrigens kam im Laufe des Konzerts auch das ein oder andere Instrument zum Einsatz.)
Wo wir gerade bei „altehrwürdig“ sind: Das passte wie die berühmte Faust aufs Auge auf den nächsten Künstler, der sich im Heinepark die Ehre gab. Das Wort Legende wäre noch besser gewählt. GRAHAM NASH ist mit Sicherheit eine der größten noch lebenden Figuren der wilden Sechziger und Siebziger. Ob mit den englischen Chartstürmern THE HOLLIES oder nach der Übersiedlung in die USA mit den legendären CROSBY, STILLS & NASH in Woodstock, später kam noch NEIL YOUNG dazu, – dieser Mann hat Musikgeschichte geschrieben. In Rudolstadt bewies der 76jährige, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört. Sein grandioser musikalischer Ritt durch alle Stufen seiner Karriere riss das Publikum zu Recht zu Beifallsstürmen hin.
Und es ging gleich genau so großartig weiter: Für uns ebenfalls eines der größten Highlights des Wochenendes war zugleich auch die größte Überraschung: Hinter OMIRI verbarg sich zwar kein Unbekannter – mit seiner ehemaligen Band DAZKARIEH hatte der Portugiese Vasco Ribeiro Casais bereits beim Festival 2007 für Furore gesorgt – , ob das Konzept seines neuen Projekts zünden würde, durfte man jedoch gespannt sein. Die Mischung aus Videosequenzen, die die traditionelle Musikwelt Portugals zum Thema hatten, daraus gewonnenen Samples, live dazu eingespielten und geloopten Parts auf Nyckelharpa oder Mandoline und zwei Tänzerinnen mutete beim Lesen der Beschreibung doch sehr experimentell an. War sie auch, aber sie schlug tatsächlich auch ein wie eine Bombe. Das zumeist jugendliche Publikum vor der Konzertbühne feierte OMIRI, als gäbe es kein Morgen, ja man hatte zeitweilig den Eindruck, hier stünde ein weltberühmter Popstar oder DJ auf der Bühne. Großes Kino – hier sogar einmal im wahrsten Sinne des Wortes!
Sonntag
Der Sonntag begann dann wieder etwas ruhiger, aber kaum weniger gut. Die rockig-bluesigen Folksongs von MELANIE DEKKER auf der Theaterplatzbühne waren genau der richtige Auftakt für den letzten Festivaltag. Die Kanadierin mit holländischen Wurzeln bestach mit Charme und Stimme und unterhielt das zahlreich versammelte Festivalvolk zwischendurch immer wieder mit witzigen Anekdoten aus ihrem Touralltag.
Einen sowohl musikalisch wie optischen Leckerbissen bot anschließend die serbische Tanzgruppe KUD KRUŠIK auf der Marktbühne. Das inzwischen 160 Mitglieder zählende Ensemble ist bereits mehrfach preisgekrönt – national wie international – und erntete für seine Darbietungen auch in Rudolstadt zu Recht großen Applaus. Den bekam auch der anschließend auf der gleichen Bühne auftretende Gitarrenvirtuose VANO BAMBERGER. Von Eigenkompositionen über DJANGO REINHARDT – Klassiker und Filmmusik bis zum Schlager präsentierte der im hessischen Hanau beheimatete Musiker zusammen mit seinem Bruder und seinem Sohn und verstärkt um einen polnischen Geiger und einen tschechischen Kontrabassisten die Ganze Breite des Sinti-Swing.
Weniger swingend, dafür um einiges rockiger ging es dann bei FATOUMATA DIAWARA auf der großen Parkbühne zur Sache. Die in Abidjan (Elfenbeinküste) geborene Künstlerin mit malischen Wurzeln bot mit blauem Turban und blauem Lippenstift schon allein optisch eine beeindruckende Erscheinung. Neben Rock vermischt sie in ihrer Musik auch Soul- oder Hiphop-Einflüsse mit den traditionellen Klängen Westafrikas. Mit diesem extrem gut tanzbaren Mix und vor allem ihrer großartigen Stimme brauchte sie nicht lange, um das Rudolstädter Publikum auf ihre Seite zu ziehen.
And now – frei nach Monty Python – again for something completely different: Obwohl, eines haben FATOUMATA DIAWARA und der Schweizer Liedermacher FABER doch gemein: die zeitweise rebellische Liebe zur Unabhängigkeit. Der in der Schweiz geborene Sohn eines berühmten sizilianischen Vaters (bürgerlich heißt er Julian Pollina) polarisiert durch seine rotzigen, oft derben Texte, die einerseits so wohltuend gar nichts mit dem weinerlich-introspektiven Trend in der deutschsprachigen Rock- und Popmusik der letzten Jahre zu tun haben. Davon, dass er dabei aber nicht ganz frei von Inkonsequenz und einer gewissen Selbstverliebtheit ist, zeugen nicht nur Textzeilen wie „es ist so schön, dass es mich gibt“ oder „Bleib Dir nicht treu“, sondern wurde auch durch auch seine Bühnenperformance in Rudolstadt deutlich. Wie sehr das bei ihm Programm ist oder er selbst, sei dahingestellt. Fans hat er jedenfalls genug und vor allem das jüngere Publikum vor der Konzertbühne feierte seinen Helden FABER entsprechend ab. Aber das ist ja das Schöne am Rudolstadt Festival – man muss nicht unbedingt alles zu 100 Prozent mögen.
Eher verbindend war dann wieder die Musik des letzten Acts an diesem Wochenende. Die chilenische Gruppe CHICO TRUJILLO („Kleiner Gangster“) versetzte mit ihrem Party-Mix aus New Cumbia, Rock, Punk und Ska die Massen vor der großen Heineparkbühne noch einmal gehörig in Bewegung. Für uns war es Zeit für das traditionelle Abschiedsbier und ein Fazit.
Was bleibt vom diesjährigen Rudolstadt-Festival, übrigens dem 28. nach der alten TFF-Zählung? Wie eigentlich in jedem Jahr eine unglaublich breite Palette an großartiger Musik, darunter, ebenfalls schon programmgemäß, jede Menge toller Neuentdeckungen. Und natürlich das Bedauern ob der vielen Dinge, die man wie immer verpasst hat – diesmal leider unter anderem die RUTH-Verleihung oder das Arbeiterlieder-Projekt. Aber wie will man auch rund 130 Bands und Solokünstler auf 28 Bühnen gleichzeitig erleben? Schlicht unmöglich. Da möchte man doch jedes Mal aufs Neue seine liebgewordene Gentechnik-Skepsis einfach über Bord werfen und bis zum nächsten Jahr (mindestens) drei Klone seiner Selbst bestellen…
Für uns waren, im Gegensatz zum letzten Jahr, diesmal definitiv wieder mehr wirkliche Gänsehautmomente dabei, aber das hat ja immer mit dem persönlichen Geschmack zu tun und ist komplett subjektiv. Objektiv begrüßenswert war in jedem Fall die Reaktion der Festival-Organisatoren auf das Überfüllungs-Problem der letzten Jahre. Die alte Weisheit „weniger ist mehr“ hat sich in diesem Fall tatsächlich wieder einmal bewahrheitet. Nun gilt es wieder, die 361 Tage der „zweiten Jahreszeit“ zu überstehen, bis das Deutschlands schönstes Festival wieder an den Thüringer Saalestrand ruft. Dann mit dem Tanzschwerpunkt Bourrée und dem Länderfokus Iran (!). Bis zum 04.07.2019 müssen wir uns alle noch gedulden. Seufz…
Unsere große Bildergalerie zum Rudolstadt-Festival 2018 findet Ihr hier.