Nach „Occupy Wall Street“ in den USA und vor der „Regenschirm-Revolution“ in Hong Kong versammelten sich im Sommer 2012 um die 200.000 Menschen vor dem Büro des japanischen Premierministers in Tokio. Sie kamen, um gegen die japanische Atomenergiepolitik zu protestieren, ausgelöst durch die Katastrophe von Fukushima im Jahr zuvor. Über Japans Anti-Atom-Bewegung wurde in den Medien des Landes nicht berichtet und damit bekam auch die Welt davon kaum etwas mit. Der Dokumentarfilm „Tell the Prime Minister“ des japanischen Wissenschaftlers Eiji Oguma kombiniert Interviews mit von Handykameras gefilmtem Material und zeigt damit ein lebendiges und authentisches Bild einer der größten sozialen Bewegungen, die das Land der aufgehenden Sonne seit langem erlebt hat.
Der Film setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Interviews mit Betroffenen und Beteiligten – vom damalig amtierenden Premierminister, der nun zum Umwelt-Aktivisten mutiert ist, über Ladenbesitzer und Studenten bis hin zu in Japan lebenden Ausländern – wechseln mit Sequenzen, die von Teilnehmern der Demonstrationen bei Vorbereitungstreffen und auf der Straße gefilmt wurden.
Eiji Oguma ist eigentlich Professor am Institut für Policy Management der Keio-Universität in Tokio, wo er zu Themen wie nationaler Identität und Nationalismus, Kolonialpolitik, Demokratieverständnis und sozialen Bewegungen im modernen Japan forscht. Für seine Veröffentlichungen wurde er bereits sechs mal mit Preisen ausgezeichnet. „Tell the Prime Minister“ ist sein erster Film. Oguma selbst sieht sich jedoch deshalb nicht als Filmemacher:
„Ich bin Soziologe und Historiker. Ich wollte mit dem Film einfach nur diese historische Begebenheit dokumentieren. Ich sah es als meinen Auftrag diese Ereignisse einzufangen, damit sie für zukünftige Generationen nicht verloren gehen. In meinen Büchern habe ich schon immer Fragmente historischer Dokumente zusammengesetzt, um eine Geschichte zu erzählen. Bei diesem Projekt machte es irgendwie keinen Unterschied, ob ich Worte oder Film benutzte, um diese spezielle Geschichte zu erzählen.“
Seinem historischen Ansatz folgend, bietet der Film aber nicht nur ein unmittelbares Zeugnis des Protests. Die chronologische Ordnung, im ersten Teil vor allem bestehend aus Interview-Sequenzen und Nachrichtenmaterial, sorgt dafür, dass man ein Gefühl für den Ablauf der Ereignisse bekommt.
Bei aller Beteuerung die Ereignisse lediglich als Historiker aufgezeichnet zu haben ist Ogumas Bild-Chronik natürlich aber kein unpolitisches Werk, was spätestens durch das eigene Engagement des Regisseurs innerhalb der Protestbewegung, die auch im Film zu sehen ist, offensichtlich wird. Dies will er aber auch gar nicht leugnen. Ihm geht es eher darum, herauszustellen, dass er den Film weniger als „sein“ Werk, als vielmehr das aller daran Beteiligten ansieht, die entweder durch das Filmen oder die Interviews unentgeltlich zu dessen Fertigstellung beigetragen haben.
Die wichtigste Frage, die man sich in der Erinnerung und auch nach dem Betrachten des Films unweigerlich wieder stellt, und auf die der Film keine Antwort gibt, ist die, warum Massenproteste dieser Größenordnung in den japanischen Medien so nahezu vollständig totgeschwiegen wurden oder werden konnten. Japan genießt ja nun nicht unbedingt den Ruf einer totalitären Diktatur, um so mehr drängt sich der Umstand als fragwürdig auf. Auch Eiji Oguma tut sich in einer dem Film anschließenden Diskussion sichtlich schwer, eine Erklärung zu formulieren:
„Am besten lässt es sich wohl damit erklären, dass Japan keinerlei Erfahrung mit sozialen Bewegungen auf einer derart breiten und [divers] Basis hat. Selbst die Protestbewegung der 60er Jahre wurde in Japan fast ausschließlich von den Studentenverbänden und den Gewerkschaften getragen und gesteuert. Die Teilnehmer der Proteste gegen die nukleare Energiepolitik kamen dagegen aus allen Schichten der Gesellschaft und es gab keine irgendwie geartete Organisation, die dahinter stand. Mit so etwas hatten die japanischen Medien keine Erfahrung. So etwas gab es bei uns einfach nicht. Das entspricht nicht der normalen japanischen Mentalität. Natürlich versuchten einzelne Journalisten, über die Demonstrationen zu berichten, aber in den Chefetagen und Redaktionen wurde das Thema ignoriert und totgeschwiegen.“
Die traditionell-konservativen Werten verhaftete japanische Mentalität dürfte wohl nur einer von mehreren Gründen für das „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ sein. Die heutzutage in „westlichen“ Demokratien übliche und auch im fernen Osten kaum verwundernde Verflechtung von Medien mit Wirtschaft und Politik ist mit Sicherheit einer der anderen.
„Tell the Prime Minister“ ist ein spannendes Zeitdokument, das einem einmal mehr bewusst macht, wie nahe Japan und wie klein der blaue Ball doch ist, auf dem wir durchs All reisen. Vor allem aber ruft es die nach wie vor hoch aktuellen Ereignisse in Japan wieder ins Gedächtnis, deren Auswirkungen noch lange anhalten werden und die in unserer schnelllebigen Medienwelt inzwischen schon beinahe wieder der Vergessenheit anheim gefallen sind.
Derzeit tourt Eiji Oguma mit seinem Film um die Welt. Auch in Deutschland wird er bei einigen Festivals und in Sondervorstellungen zu sehen sein. Die Termine gibt es hier.
„The people who appear in this film are truly stars in my eyes. They are diverse in gender, generation, class, origin, nationality, and orientation. When they gathered in front of the Prime Minister’s Office to protest it was such a rare, powerful, and beautiful moment.“
Eiji Oguma