Der Frankfurter DJ und Musiker Stefan Hantel, bekannt unter seinem Künstlernamen SHANTEL, gilt als einer der Mitbegründer des Balkan Beat – Stils. Inzwischen ist er auf der ganzen Welt und in vielen Musikrichtungen zuhause. Wir trafen den Künstler bei seiner „The Kiez is alright“-Tour in Berlin vor dem Konzert.
Nach kurzem Warten im Vorraum begrüßt uns Stefan gut gelaunt mit einem Teller Porridge in der Hand. „Sorry, das ist mein Frühstück“, grinst er entschuldigend. Frühstück? (Es ist kurz vor halb acht abends). „Ja, wir waren gestern in Kopenhagen, da wird die Nacht zum Tag.“ Nachdem wir es uns in einer Sofaecke im Backstage gemütlich gemacht haben, nimmt er sich aber ausführlich Zeit uns während seines Morgenmahles einige Fragen zu beantworten.
Dein neues Album „Anarchy + Romance“ unterscheidet sich ja deutlich von seinen Vorgängern. Es ist bei weitem nicht mehr so Dancefloor-lastig und enthält auch viele ruhigere Stücke. Laut den Presseinfos ist das Dein erstes echtes „Artist“-Album, während die vorher eher Produzenten-beeinflußt waren. Stimmt das so?
Ich war ja immer oder bin mein eigener Produzent, also ich habe nie mit fremden Produzenten gearbeitet. Aber wenn man das jetzt mal vergleicht mit „Planet Paprika“ oder „Disco Partizani“, dann würde ich sagen ich habe die Alben davor relativ virtuell und patchworkartig am Rechner produziert, über Wochen und Monate. Es gab zwar immer Sessions mit Gastmusikern, die ich eingeladen hatte, teilweise waren es auch Musiker aus der Band, aber schlußendlich war ich immer mit mir alleine am Rechner und habe sozusagen das Ding sehr konzeptionell aufgebaut, auch im Hinblick auf Clubkompatibilität. Das war für mich auch die Ebene, auf der ich mich am besten ausdrücken konnte. Es ist ja immer auch ein gewisser Prozess, wie man sich entwickelt, als jemand der Musik macht, oder was so die Ambition ist. Ich war eigentlich nie „der Livemusiker“, ich war eher immer so ein bißchen der „Kurator“, mit einer gewissen Vision, wie es klingen soll oder wo ich es verorten möchte, wenn ich die Platten gemacht habe.
Ich wollte das bei „Anarchy + Romance“ einfach anders machen. Zum einen wollte ich nicht in Gefahr geraten mich zu wiederholen. Quasi „Disco Partizani“ noch einmal als Fotokopie, und den Erfolg damit wiederholen, sowas finde ich sehr gefährlich. Ich wollte auch eine Platte machen, die mehr die Band, also mehr das Lebendige, Haptische, was man dabei erlebt, rüberbringt. Also daß man sagt, wir spielen jetzt einen Song zwanzig, dreissig mal hintereinander im Studio und der Take 23 ist es dann einfach. Dann macht man vielleicht noch zwei, drei Overdubs, aber eigentlich kann ich dann nicht mehr wirklich eingreifen. Bei den anderen Produktionen, die ich gemacht habe konnte ich eigentlich an jeder Stelle noch eingreifen, immer nochmal da was editieren, da was rausschneiden… Bei „Anarchy + Romance“ habe ich es bewußt vermieden zu viel Postproduktion zu machen, sondern ich wollte das eher klassisch angehen.
Das heißt Ihr habt die Songs in Komplettbesetzung live eingespielt?
Meistens. Das meiste habe ich mit Marcus Darius, der auch Schlagzeug spielt und mit dem ich seit Jahren zusammenarbeite – da kommt er übrigens gerade. Marcus say hello! [Es folgt eine kurze Begrüßung] Also wir haben zusammen mit Schlagzeug und Gitarre ziemlich viele Sessions gemacht, bei dem wir einfach ein Mikro in den Raum gestellt haben, und da haben sich dann sehr schnell spannende Versatzstücke entwickelt, bei denen wir gesagt haben, den Groove nehmen wir jetzt, oder dieses Arrangement. Dann haben wir die restlichen Musiker eingeladen und haben das stundenlang gejammt.
Also haben sich die Songs erst im Studio so richtig entwickelt?
Die Songs waren an sich schon fertig, aber die Arrangements waren noch nicht ganz klar. Die haben wir dann eben so auf der Session-Ebene ausgetüftelt.
Da Du jetzt mehrfach von Deiner Band gesprochen hast – wer gehört da eigentlich dazu? Man findet kaum eine feste Besetzungsliste.
Das hängt damit zusammen, daß es so ein bißchen eine Art „Wanderzirkus“ ist, mit dem ich da seit Jahren unterwegs bin. Das heißt, momentan gibt es eine relative Grundbesetzung, dazu gehören Marcus Darius, Tea Mikic und ich, oder auch Novica Ristic, der eine Trompeter, und Alon Peylet, der die Posaune spielt. Das ist nun seit einigen Jahren so die Stammbesetzung. Nur ist es so, da wir relativ viel spielen das Jahr über, ist das so ein „Alles oder Nichts“ – Unternehmen. Der Musiker, der sich verpflichtet bei der Produktion einzusteigen, kann eigentlich nichts anderes mehr machen. Wenn er Tourpause hat, dann ruht er sich aus und wird sich nicht noch irgendwas anderes aufhalsen. Von daher ist es ein bißchen schwierig zu sagen, das ist jetzt die Band. Und eigentlich ist es ja ein Orchester, sonst hieße es ja „Bucovina Band“, und ein Orchester ist für mich auch immer so ein bißchen eine unbekannte Größe. Ich nehme mir natürlich auch das Recht heraus, wenn es klappt, Gäste dazuzunehmen, weil ich es toll finde, punktuell auch andere Musiker reinzuholen. Wir hatten gerade bei den letzten Shows Uri Kinrod aus Tel Aviv an der E-Gitarre dabei, von der Band Boom Pam, mit dem hab ich schon vor zehn Jahren eine Platte produziert. Die Shows mit ihm waren sensationell. Das sind einfach so Sachen, die ich mir offenhalten will.
Weißt Du, ich hab auch so ein bißchen Angst vor diesem sogenannten „demokratischen“ Bandmodell. Ich komme ja eher aus der elektronischen Musik und habe als DJ immer die Freiheit gehabt, eher wie so ein „Westentaschendiktator“ zu agieren. [lacht] Weil ich auch immer sehr genau wußte, was ich wollte. Wenn ich mich jetzt in so ein demokratisches Bandgefüge begeben würde, würde ich sehr viel leiden, glaube ich. Also nicht, daß ich jetzt Antidemokrat bin, ganz im Gegenteil, aber es ist einfach was anderes.
Die Angst vor dem Kontrollverlust?
Da hab ich eigentlich kein Problem, ich hab nicht so sehr die Angst vor dem Kontrollverlust. Grundsätzlich haben wir eigentlich die Haltung des Musikers, daß wir Musiker scheiße finden. Oder Marcus? [„Musiker sind scheiße“ tönt es zur Bestätigung aus dem Hintergrund] Ich meine, hör Dir alte Aufnahmen an, was weiß ich, Motown, James Brown, das ist Minimalismus. Da wird stoisch ein Pattern gespielt, da groovt die Band. Sag mal einem studierten, akademischen Posaunisten, Du spielst jetzt nur: bam di bamp bamp, bam die bamp bamp… Da sagt er: ey, wo ist der Harmoniewechsel? Wo ist die Bridge? Da muss doch noch was kommen? – NEIN! Bleib auf diesem Ding! Ich finde, das ist auch das Spannende bei Roots-Musik. Die meiste Roots-Musik basiert drauf daß es immer so ein erdiges Grundmuster gibt, so einen Minimalismus, wo einfach die Band mehr Wert darauf legt, daß sie zusammen grooven und nicht daß sie jetzt virtuos ein Solo, einen Harmoniewechsel oder was weiß ich nach dem anderen haben. Das muss sich so einschwingen und das ist eine Sache, mit der sich jeder Musiker schwer tut. Also sagen wir mal, jeder nordwesteuropäische Musiker tut sich schwer damit. Aber ich finde, daß es genau darum geht beim Musik machen.
Da Du das Thema Gäste bei Livekonzerten angesprochen hast, da hattest Du ja auch ziemlich viele auf dem Album. Wie kam es da im einzelnen zur Zusammenarbeit? Besonders interessiert mich da Tobias Unterberg alias B. Deutung, der ist ja sonst eigentlich in ganz anderen Musikbereichen zuhause, also eher in der Gothic-Ecke.
[lacht] Ich habe mich mehrmals mit dem Frankfurter Jugendsymphonieorchester getroffen, da hat sich dann so ein Kern herauskristallisiert, so eine Art Streichquartett. Und diese ganze Klassik- und Streicherfraktion, die sind ja total untereinander vernetzt. Irgendwann hatten wir einen Aufnahmetag und Ralf, einer der Violonisten, sagte Du, da ist gerade ein Super Cellist in town, der ist mit uns unterwegs, wir machen zusammen mit DEEP PURPLE so eine Rock-Symphonic-Schweinerei. Da hab ich gesagt, komm hol den! Wir waren bei mir zuhause, ich mach das ja alles zuhause, also war das sowieso alles ein bißchen intimer mit den Streichern. Ich hab da einen großen Raum bei mir in Frankfurt, der klingt gut, da kann man sehr gut aufnehmen. Ja, und wir haben uns dann gleich super gut verstanden. Ich glaube beim Musik machen gibt es da nicht so die Beschränkungen. So jemand wie Tobias hat da vielleicht seine Verortung in dieser Szene, wie Du es beschrieben hast, aber der ist so open minded, der kann alles machen. Der hat einen ganz weiten Horizont und er ist unglaublich vielseitig und dabei doch ein großer Individualist – ein großartiger Musiker! Das ist so ein Typ, den trifft man, man zeigt ihm so ein bißchen, was man sich vorstellt und der fängt an und macht einfach so seinen Mikrokosmos. Ähnlich wie François Castiello von BRATSCH, mit dem ich immer viele Akkordeon-Sessions gemacht habe, der ist auch so ein Typ. Ich liebe ihn als Musiker, weil er einfach seinen eigenen Kosmos macht. Der weiß sehr viel aber ist auch immer drauf bedacht, nicht zu tief in die Materie einzusteigen. Er kann sehr gut Balkan und er kann auch sehr gut Blues, aber er wird Dir nie den Taliban raushängen lassen und sagen: nur so! Das sind eigentlich genau die Leute, mit denen ich gerne arbeite.
Wie ist das eigentlich mit der Liveumsetzung? Du hattest ja die Streicher auf dem Album, aber zum Beispiel auch zwei Gastsängerinnen von der Band DEAR READER, wie setzt ihr das auf der Bühne um? Werden die Songs überhaupt live gespielt?
Wir haben jetzt ein Experiment gemacht, vor ein paar Tagen, bei FM 4 in Wien, beim österreichischen Rundfunk, da haben wir ein Radiokonzert aufgezeichnet. Da waren auch Cherilyn MacNeil und Emma Greenfield dabei, wir haben das quasi zu dritt mit Fender Rhodes und Akustikgitarre, und Emma spielt ja auch Cornet, als Unplugged-Session gespielt. Das hat wunderbar funktioniert. Man kann es auch noch nachhören auf der FM 4 – Seite. Nur ist es leider so, daß Cherilyn und Emma gerade selbst mit DEAR READER auf Tour sind, deswegen kann ich sie heute leider nicht hier präsentieren. Und es ist auch so, daß die Livekonzerte, wie zum Beispiel heute abend, immer ein Spektakel sind. Ich mache ja keine Kammerkonzerte. Wir fabulieren zwar die ganze Zeit darüber, auch mal eine Unplugged-Tour zu machen…
Gute Idee, warum eigentlich nicht?
Ja, ich würde das eigentlich sehr gerne machen. Wir müssen das einfach mal alles durchrechnen, wie, wo und wann, da wir das ja alles in Eigenregie machen und keine dicke Konzertagentur oder Major Company im Hintergrund haben. Wir müssen das alles selber finanzieren und ich will jetzt auch keine Eintrittskarten für 30 Euro verkaufen. Bei uns ist eigentlich bei 19, 20 Euro Sense, mehr will ich den Leuten nicht abverlangen. Aber das ist in jedem Fall eine Option und Idee, der ich mit großer Freude nachgehe.
Ihr seid ja nun schon eine ganze Weile unterwegs. Wie ist die Tour bis jetzt gelaufen? Wie haben die Fans auf das neue Material reagiert?
Ich muss sagen, daß es eigentlich besser läuft denn je. Ich finde es läuft sogar besser als bei „Disco Partizani“, weil ich glaube jetzt so nach ein paar Jahren hat sich eine ziemlich starke Fanbase herauskristallisiert und die Leute wissen, daß sie bei mir jetzt nicht so das eingleisige, ich nenn es jetzt mal überspitzt „Balkan-Ghetto“ bekommen. Wir sind keine Russendisko oder so. Wir sind Musik-Aficionados [spanisch für „Liebhaber“, Anm. d. Red.], die die Augen und Ohren immer nach allen Seiten offen haben, ohne jetzt in so einen Eklektizismus zu verfallen, wo es dann eigentlich nur noch darum geht, Potpourri-artig zu spielen. Das ganze hat schon einen ziemlich eigenen Drive, aber ist trotzdem sehr offen und pluralistisch. Das ist auch für mich so ein Prinzip, daß ich immer sage ich möchte nicht in so einem Fahrwasser schwimmen. Ist manchmal nicht so leicht. Zum Beispiel, wenn wir auf einem Weltmusik-Festival spielen, kommt ja auch oft vor und da habe ich auch überhaupt keine Berührungsängste, da spielen wir meistens eher ein rockiges Programm. Wenn wir jetzt auf einem Rockfestival spielen, spielen wir ein eher Balkan-orientiertes Programm. [grinst] Einfach um so ein bißchen diese Bipolarität zu unterstützen. Aber grundsätzlich würde ich immer sagen, Liveshows von uns sind immer… da schepperts einfach im Karton! Das sind keine betulichen Matinees.
Noch zwei kurze Fragen zum Abschluß: Kleiner Club oder großes Festival, was ist Dir lieber?
Ich finde beides gut. Wobei… [überlegt kurz] Vom Herzen her würde ich sagen: kleiner Club.
Du bist ja schon überall auf der Welt aufgetreten. Gibt’s da noch offene Wünsche, also Clubs, Städte oder Länder, wo Du noch nicht warst und unbedingt noch mal spielen willst?
Ich muss gestehen, ich bin ziemlich auf den Geschmack gekommen irgendwo in der Wallachei, in so Provinz-Locations zu spielen. Wir haben mal irgendwo im Waldviertel, 100 Kilometer nördlich von Wien gespielt, das war ein Dorf, da haben 600 Leute gewohnt, da gab es so ein altes Kino. Und da war echt das ganze Dorf versammelt, das fand ich total irre! Über die Big Festivals und deren Besonderheiten mache ich mir keine Sorgen, weil das ist auf eine gewisse Art gesetzt. Aber diese kleinen, besonderen, intimen, privaten, verrückten Geschichten… Kino Ebensee zum Beispiel, in der Nähe von Salzburg, kennt eigentlich kein Schwein, ist aber magic! Ich hatte auch mal das Glück gehabt, vor einem Jahr, auf der letzten Hochalm beim Matterhorn zu spielen, in so einer kleinen Hütte, ich glaube da waren 40 Leute. Das war tierisch, wirklich tierisch… Also sowas sehr gerne. Das reizt mich vielmehr als jetzt zu sagen, ich will unbedingt in Japan spielen oder so.
Wir bedanken uns für das Interview und freuen uns aufs Konzert!