Interview – VIC ANSELMO

Vic_streetEs ist wichtig, in dieser verrückten Welt nicht verrückt zu werden.“

Die aus Lettland stammende Sängerin VIC ANSELMO war vor einigen Wochen mit ihrer Akustik-Show zu Gast in Berlin. Kurz vor dem Auftritt hatten wir die Gelegenheit, uns bei einer Tasse Tee ausführlich mit der Künstlerin zu unterhalten. Neben der Arbeit am neuen Album ging es dabei auch um teils sehr persönliche Themen. Ein Gespräch über Kreativität, Burnout, Drogen, Social Media und die Wichtigkeit, das Positive im Leben zu sehen.

Hallo. Schön Dich zu sehen. Es ist ja eine Weile her. Dein letztes Album ist jetzt auch schon zwei Jahre alt. Oder waren es drei?

Nein, drei waren es nicht. Das war 2015, also zwei. Sogar weniger als zwei, das Album ist im Oktober 2015 erschienen. Und letztes Jahr dann die EP.

Was hast Du seitdem gemacht? Seit den letzten Konzerten ist ja auch schon wieder eine Weile vergangen.

Gute Frage. [lacht] Ich habe sehr viel gemacht. Man konnte das nur nicht so gut beobachten. Ich habe viel komponiert und Lieder geschrieben und vor allem sehr viel mit Sounds experimentiert, weil ich dabei bin, das Material fürs neue Album vorzubereiten.

Wie weit bist Du damit? Wir sind alle schon sehr gespannt darauf.

Meine Demos sind fast fertig. Nun überlege ich, Schritt für Schritt, mit wem ich das aufnehmen werde, auf welchem Label es erscheinen soll und diese ganzen Dinge. Das dauert alles ein bisschen. Die Sache ist nämlich, dass es wieder ein wenig anders werden wird. Ich arbeite wieder mit Gijs Coolen, der auch schon meine letzte EP produziert hat. Wir haben früher auch zusammen mit Anneke [ANNEKE VAN GIERSBERGEN; Anm. d. Red.] in einer Band gespielt. Er ist ein super Gitarrist und eine sehr aufgeschlossene Person, auch musikalisch, das ist wirklich schön. Manchmal sitzen wir bis fünf Uhr morgens zusammen und hören uns alle total verschiedene Musik an, Schlagzeuger, Gitarristen, alles mögliche, um Inspirationen zu bekommen. Es wird auf keinen Fall wieder ein Akustik-Album werden.
Abgesehen davon ist auch sonst jede Menge passiert, es hat viele Veränderungen gegeben, auch in mir selbst. Ich habe einfach Zeit gebraucht, auch als Person. Aber ich war während der ganzen Zeit sehr kreativ, auch wenn man es nicht so mitbekommen hat. Ich habe eine Freundin in Riga, sie macht Schmuck und sie ist sehr talentiert. Sie macht wundervolle Dinge aus Silber. Vor kurzem erst habe ich zu ihr gesagt, dass ich manchmal wirklich neidisch auf sie bin. Wenn sie zum Beispiel einen Ring macht, dann ist er einfach fertig. Foto machen, auf Instagram stellen, fertig. Beim Komponieren ist das anders, der ganze Prozess des Brauens und Zusammenbauens… Dann muss man Musiker finden, es muss produziert werden, all das benötigt eine Menge Zeit. Und man hat lange nichts, das man herzeigen kann. Psychologisch ist das manchmal ziemlich hart. Aber wenn es dann erst mal läuft, dann läuft es. [lacht] Ich habe schon darüber nachgedacht, noch ein paar Nebenprojekte zu starten, weil ich während der ganzen Zeit so viel komponiert habe, vor allem auch in ganz verschiedenen Genres.

Ich weiß jetzt nicht, ob Du hier gerne darüber reden willst, aber Du hast mir vor nicht all zu langer Zeit geschrieben, dass Du einen Burnout hattest?

Doch, das ist schon ok.

Wenn man Dir jetzt so zuhört, käme man nie auf diese Idee. Also vor allem, wenn man hört, dass Du schon wieder dabei bist, gleich mehrere Nebenprojekte zu planen.

Ich weiß, ich weiß, es ist verrückt… [lacht] Die Sache ist die… ich kann das gar nicht so richtig erklären… Ja, ich hatte einen Burnout. Aber ich habe diesen Drang, mich auszudrücken. An diesem Punkt wird es wirklich kompliziert… ich fühle einfach einen unheimlichen Drang etwas zu erschaffen, kreativ zu sein, weil es mich von meinen körperlichen Problemen und Dingen wie dem Burnout befreit. Manchmal fühlte ich mich einfach ausgebrannt, weil ich mich zu sehr versucht habe mich zu konzentrieren. Ich habe einen chaotischen Geist und ich konnte mich nicht auf eine Sache konzentrieren. Viele Dinge haben sich verändert, ich musste ein paar Mal das Management wechseln, und ich musste lernen, eine Menge an organisatorischen Dingen selbst zu machen. Es ist kompliziert, die Kunst und diesen organisatorischen Kram zusammenzubringen, das sind zwei komplett unterschiedliche Welten. Und dazu kommt noch der Unterricht, den ich gebe. Ich liebe es zu unterrichten, ich habe wundervolle Schüler, von denen ich selbst so viel lerne, es ist wirklich sehr inspirierend. Aber das ist wieder ein anderer Bereich. Das, was schließlich zu meinem Burnout führte, war, dass ich nicht wirklich gut zwischen diesen verschiedenen Sphären hin und her schalten konnte. Das war wirklich das Hauptproblem. Das hat sich über die Jahre so aufgebaut. Aber wenn ich komponiere, fühlt sich das sehr einfach und natürlich an, dann fühle ich mich von all dem befreit. Das heilt mich sozusagen. Ich bin ja jetzt auch fast ein halbes Jahr nicht mehr live aufgetreten und gestern nach dem Konzert, da war auf einmal der ganze körperliche Schmerz, der ganze Organisationsstress wie weggeblasen. Das sind die Momente, in denen ich realisiere, dass ich das viel öfter tun muss. Auf der Bühne fühle ich mich wie eine komplette, gesunde Person und alles ist in Ordnung. Ich kann so viel geben und da ist dieser Energieaustausch mit den Leuten, der glaube ich der Hauptgrund dafür ist, dass ich tue was ich tue. Es ist einfach ein so unglaubliches Gefühl. Man gibt diese positiven Emotionen und dann gibt es diesen Austausch und alle sind glücklich. Ich bin glücklich, Ihr seid glücklich. Ich denke jeder hat mal diese Zeiten, wenn alles nur noch verwirrend und einfach zu viel ist. Ich halte mich für eine starke Person, aber manchmal, wenn sich in mir zu viel ansammelt und ich nicht die Zeit habe, es zu verdauen, dann flippe ich total aus. Ich bin so ein Typ, der ein bisschen Zeit braucht, um zu verdauen. Das geht schnell, wenn es nur wenige Dinge sind, aber wenn es zu viel wird, dann werde ich panisch und dann schlägt es sich körperlich nieder und wird zum Burnout. Also zumindest wenn es permanent zu viel ist.

Wie hast Du es geschafft, aus diesem Loch wieder herauszukommen?

Also, ich versuche mir gerade eine Menge verschiedene Techniken anzueignen, ich lese viel einschlägige Literatur, die mir dabei hilft, meinen Tag zu strukturieren, zu meditieren und es mir ermöglichen, ein wenig Kontrolle über meinen Geist zu haben und mich zu entspannen. Tricks, die einem helfen durch das Chaos seines Lebens zu kommen, vor allem, wenn man keinen gewöhnlichen Beruf und viel zu tun hat. Man kann viel schaffen, aber man muss es Schritt für Schritt machen. Ich habe mir während des gesamten letzten Jahres beigebracht, meinen Geist total neu zu strukturieren, um in der Lage zu sein, das was ich mache, auch wirklich zu genießen. Das kann man nicht, wenn man die ganze Zeit nur rennt. Ich denke, so geht es den meisten Menschen in der heutigen Welt. Wir haben so eine chaotische Zeit und ständig steht man unter Stress und Zeitdruck. Soziale Netzwerke machen das alles noch hektischer. Man schaut auf Facebook und denkt, boah, was für ein Leben die Leute haben, sie machen tolle Urlaubsreisen oder nehmen ein Album auf oder was weiß ich, und dann will man das alles auch und möglichst sofort. Aber das ist nicht Deine Realität. Das macht wirklich Dein Gehirn kaputt.

Es ist auch nicht deren Realität, das sollte man niemals vergessen. Es ist nur das, was sie online stellen.

Genau. Und grundsätzlich können diese Bilder oder Videos so unterschiedlich interpretiert werden und aus so vielen Blickwinkeln. Natürlich kann das einen Eindruck von einem Teil Deines Lebens vermitteln, aber eben nur einem Teil. Es ist nicht alles. Und oft hat man den Eindruck, dass durch die Bilder nur ein bestimmter Eindruck vermittelt werden soll, um bei den Betrachtern spezielle Gefühle zu erzeugen. Das ist nichts natürliches, sondern da steht eine bestimmte Intention dahinter. Ich versuche tatsächlich inzwischen, mich von den sozialen Netzwerken ein wenig mehr fern zu halten.

Würdest Du sagen, dass man heute als Künstler die sozialen Medien braucht?

Doch, klar. Das Ganze hat Vor- und Nachteile. Natürlich ist es genial, was man mit sozialen Medien erreichen kann und wobei sie einem helfen. Ich denke, die Sache ist nur, dass wir alle auf die ein oder andere Art zu süchtig danach geworden sind. Ich habe festgestellt, dass ich auch zu süchtig danach geworden bin. Kennst Du diese fantastische Serie „Black Mirror“? Da gab es einen Trailer mit diesem Typen – ich glaube das war der Trailer für die letzte Folge der ersten Staffel –, der über sein Smartphone sprach, und meinte, es wäre das erste, was er morgens sieht und auch das letzte, bevor er schlafen geht. Dieser Satz hat sich irgendwie in mein Gehirn eingebrannt, weil er so wahr ist. So fürchterlich wahr. Es ist eine Sucht, ein wenig, als wäre man ein Alkoholiker. Es ist wirklich wie eine Droge. Natürlich ist es gut für mich als Künstlerin und auch weil ich sehr viele Freunde habe, die über die ganze Welt verstreut sind. Es macht die Kommunikation wirklich einfach und ich liebe es, diese unglaubliche Möglichkeit zu haben. Aber ich glaube, dass man sich Grenzen setzen sollte. Natürlich muss jeder selbst herausfinden, in welchem Umfang es sein Leben beeinflusst. Das ist eine persönliche Sache. Klar gibt es Leute, die damit sehr professionell umgehen und jede Menge Spaß dabei haben. Mich verwirrt es manchmal eher. Die meisten Informationen, die man über die sozialen Netzwerke bekommt, sind oberflächlich und nicht sehr tiefschürfend. Ich merke es an mir selbst, wenn ich mich da durch scrolle, dass ich anfangs vielleicht noch mehr lese und je länger ich es mache, desto mehr schaue ich nur noch auf die Titel oder am Schluss nur noch auf die Bilder. Aber so funktioniert es eben. Das ist ein bisschen wie Gehirnwäsche. Auf diese Art „lernen“ wir sozusagen, den Dingen nicht mehr auf den Grund zu gehen.

Touché. So ging es mir ja mit einem Deiner letzten Facebook-Posts. Du hattest das Video von „Stand By Me“ gepostet und ich habe es sofort mit der Frage kommentiert, ob Du das auch auf dem Konzert in Berlin spielen wirst. Dabei stand das ja schon da, nur eben ein paar Sätze weiter unten. Aber so weit hatte ich nicht gelesen…

Ja, das habe ich gesehen. [lacht] Und ich verstehe es total, das ist ganz normal. Wir leben in einer wirklich interessanten Zeit. Auf eine bestimmte Art hat sich eigentlich nichts verändert. Ich meine, die Welt funktioniert eigentlich immer noch auf genau die gleiche Weise wie immer. Aber die Gesellschaft und unser Verhalten haben sich verändert. Wir sind mehr gestresst, alles ist schneller geworden. Wir bekommen permanent eine Überdosis an Information. An Information, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Es ist einfach seltsam. Ich nehme mich selbst da auch gar nicht aus oder verurteile jemanden deswegen. Ich mag es nur nicht. Ich meine, wenn jemand das mag, dann ist das auch ok, denke ich. Aber ich fühle mich seltsam dabei. Ich habe überlegt, zu dem Thema auch auf dem neuen Album etwas zu machen, nur ein paar Gedanken und persönliche Dinge. Ich möchte in der Lage sein selbst zu denken und meine eigene Stimme zu hören. Ich denke, das ist eine der wichtigsten Sachen, um glücklich zu sein. Wenn man seine Persönlichkeit auf dem Leben anderer Menschen aufbaut oder auf den „Modellen“ die in diesem Moment populär sind, also auf dem was die Gesellschaft oder die sozialen Medien diktieren, dann wird man zum Sklaven. Man versucht etwas zu erreichen, das nicht wirklich aus einem selbst kommt und das man wahrscheinlich auch gar nicht braucht. Aber ich rede schon wieder zu viel, oder? [lacht]

Das ist völlig ok.

Ich habe nur schon lange kein Interview mehr gegeben. Ich muss das wieder trainieren.

Mir ist das so viel lieber als wenn ich Dir alles aus der Nase ziehen müsste. Aber lass uns nochmal auf Dein neues Album und das Thema Songwriting zurückkommen. Ich hatte da eine Frage vorbereitet, die Du eigentlich schon mit Deinen ersten Sätzen völlig kaputt gemacht hast…

Oh, das tut mir leid.

Du hast ja zusammen mit einer Band angefangen und auch mit härterer Musik, die eher im Gothic-Bereich angesiedelt war. Dann hast Du mehr zum Singer-/Songwriter-Stil gewechselt. Eigentlich wollte ich Dich fragen, wann diese Veränderung anfing und warum. Aber nun hast Du ja schon verraten, dass Du auf dem nächsten Album wieder etwas ganz anderes machen wirst. Also was erwartet uns da?

Ahh, Ihr werdet überrascht sein. [lacht] Aber bei der Veränderung dreht es sich eher um die Arrangements und solche Dinge. Es wird nicht wieder in die Gothic-Richtung gehen. Ich weiß selbst nicht genau, was es ist, um ehrlich zu sein. Ich mag einfach keine Grenzen in der Musik. Ich finde, man sollte alle Möglichkeiten ausnutzen, um auszudrücken, was man fühlt. Darum geht es meiner Meinung nach bei Musik. Ich glaube, die Musiker, die einen neuen Musikstil begründet haben, haben da vorher nicht drüber nachgedacht. Weißt Du, was ich meine? Also sie haben nicht gesagt, ich mache jetzt „Goth“ oder ich mache jetzt „Blues“, sie haben einfach angefangen, es zu machen. Das zu machen, was sie fühlten. Es ist an diesem Punkt wirklich kompliziert für mich, über das zu sprechen, was ich gerade mache.

Werden andere Musiker dabei sein?

Ja, es werden sicher andere Musiker beteiligt sein. Ich werde mit einigen Leuten zusammenarbeiten und ich denke auch tatsächlich darüber nach, mit diesen Leuten eine Band aufzubauen. Ich glaube, dass das wirklich toll wird. Ich bin echt schon richtig aufgeregt.

Du machst mich ganz schön neugierig…

Vielleicht zeige ich Dir später ein bisschen was. Ich muss nur erst mein Handy wieder aufladen, der Akku ist ganz schön runter.

Oh ja, gerne.

Die Sache ist die, das letzte Album „Who Disturbs The Water“ und auch die EP waren etwas sehr natürliches für mich. Das war, als ich nach Deutschland gezogen bin, und ich habe zu der Zeit eine Menge Akustikkonzerte gespielt – was ich liebe! Das ist einfach etwas ganz anderes und auch etwas, das ich niemals aufgeben will, was auch immer ich tue. Ich wollte einfach diesen Teil meiner Person aufnehmen. Wie es interpretiert wird und die Art, wie ich es ausdrücke, das sind einfach unterschiedliche Rahmen. Ich bin immer noch eine Sängerin und Songwriterin. Ich meine, ich singe und ich schreibe Songs. [lacht]

„Singer-/Songwriter“ ist auch eigentlich eine wirklich dumme Kategorisierung von Musik…

Ja… und das verwirrt mich oft.

Natürlich sind viele Musiker Sänger und/oder Songschreiber…

Genau. Aber es verbinden viele mit dieser Bezeichnung einen ganz bestimmten Sound.

Wir sind da ganz auf Deiner Seite. Genau deshalb haben wir unser Magazin „Schubladenfrei“ genannt.

Ich liebe diesen Namen. Weißt Du, gestern habe ich in einem Club in Hamburg gespielt, und die Besitzer sind sehr offen. Bevor das Konzert losging, also vor dem Einlass, haben wir total unterschiedliche Musik gehört. Das war super, ich mag das. Ich meine, Musik ist Musik. Aber sie hat so viele Farben und Schattierungen…

Wie funktioniert das eigentlich bei Dir, wenn Du Songs schreibst? Was ist zuerst da? Der Text oder die Musik? Du hast vor kurzem auf Facebook geschrieben, dass Du stundenlang komponiert und darüber völlig die Zeit vergessen hast, und auf einmal war es Mitternacht. Bist Du eine Perfektionistin?

In mancher Hinsicht ja. Aber ich lerne gerade, es nicht zu sehr zu sein. Sonst läuft man Gefahr, niemals etwas zu veröffentlichen. [lacht] Man kann unmöglich perfekt sein – auf diesen Deal muss man sich einlassen.

Was den Prozess des Songschreibens angeht, so läuft das ganz unterschiedlich, um ehrlich zu sein. Meistens ist es die Melodie, die zuerst in meinem Kopf ist, zusammen mit einigen noch nicht existierenden Worten. Dann nehme ich es auf und spiele damit herum. Das ist der beste Weg, meiner Meinung nach. Manchmal spiele ich auch einfach irgendwas und es entsteht etwas daraus. Oder ich träume die Songs, das kommt auch vor. Es ist wirklich unterschiedlich. Im Moment ist es einfach unglaublich. Ich bin so inspiriert, ich brauche nur die richtige Zeit und die richtige Stimmung und alles kommt von alleine. Ich brauche dazu auch keine Drogen oder Alkohol oder so etwas.

Du trinkst überhaupt keinen Alkohol?

Gar keinen. Jetzt schon seit fast einem Jahr. Es ist ein großartiges Gefühl, das ich wirklich sehr genieße. Ich weiß nicht, wie es anderen Leuten geht, aber ich fühle mich großartig dabei. Es ist auch eine Art Herausforderung für mich. Ich meine, wenn Du Dich entspannen willst und das ohne Alkohol nicht kannst, dann hast Du ein Problem. Das ist einfach mein persönliches Gefühl. Ich bin eine sehr nervöse Person und muss ziemlich oft „runterkommen“. Vor allem, wenn ich neue Erfahrungen mache, dann werde ich oft unruhig. Also muss ich versuchen, mich zu beruhigen ohne dazu solche Beruhigungsmittel einzusetzen. Ich muss nichts trinken, um mich mit jemandem zu unterhalten oder um zu tanzen. Warum auch? Anfangs war es eine Herausforderung, aber dann habe ich gemerkt, dass es so viel besser ist. Ich mag es, nüchtern zu sein.

Ist ja auch viel gesünder so.

Ja. Und ich habe auch gemerkt, dass der Kopf einfach klarer wird. Aber das ist meine Meinung. Ich habe keine Ahnung, wie das bei anderen ist. Ich möchte auch niemandem vorschreiben, was er tun soll. Die Entscheidung muss jeder selbst treffen. Für mich funktioniert es.

VIC ANSELMO beim Akustik-Konzert in der Berliner TheArter-Galerie

VIC ANSELMO beim Akustik-Konzert in der Berliner TheArter-Galerie

Du hast gesagt, Du fühlst Dich gerade sehr inspiriert. Was inspiriert Dich?

Das Leben. [lacht] Ich hatte vor kurzem gesundheitliche Probleme und dachte, ich würde sterben. Nein, eigentlich war es nicht ganz so schlimm. Ich hatte nur Magenprobleme und eine schlimme Lebensmittelvergiftung. Nach ein paar Stunden bin ich ohnmächtig geworden. Und keiner hat es mitgekriegt, weil keiner da war, das war schon erschreckend. Aber wenn es einem nach solchen Momenten wieder besser geht, dann freut man sich einfach, so nach dem Motto: Ich lebe, ich atme! Deshalb versuche ich auch, immer positiv zu bleiben. Ich glaube, das Leben ist das, was wir wiedergeben. Was wir sind, was wir geben, wie wir uns geben. Deshalb habe ich angefangen, auf die positiven Dinge zu achten, soweit ich kann. Ich meine, manchmal ist man einfach negativ, das passiert jedem. Aber ich versuche einfach, mich dahingehend zu überwachen und mir zu sagen, dass das oft gar nichts mit Leuten oder Situationen zu tun hat. Es ist sehr wichtig, darauf zu achten. Manchmal sind wir nicht nett zueinander aus Gründen, die nur in uns selbst liegen, und es hat überhaupt nichts mit dem Moment oder dem Gegenüber zu tun. Aber ich bin schon wieder weit weg von Deiner Frage… [lacht]

Nein, das ist schon ok. Ich verstehe sehr gut, was Du meinst. Ich hatte erst gestern so ein Erlebnis… Aber um vielleicht den Bezug zur Frage wieder herzustellen: hilft es Dir, negative Erlebnisse, die ja jeder ab und zu hat, in Songs zu verwandeln?

Ja, natürlich. Ich denke, egal ob es Kunst ist oder Sport oder was auch immer, jeder sollte eine Möglichkeit haben, seine inneren Spannungen auszudrücken. Wir haben alle etwas zu geben, es gibt keinen anderen Weg. Mir ist nur aufgefallen, dass die negativen Dinge, auf die wir reagieren, in den meisten Fällen gar nicht negativ sind. Es ist nur unsere Wahrnehmung davon. Ein Beispiel: „Verdammt, ich habe den Job nicht bekommen, alles ist scheiße.“ Woher weißt Du das? Es gibt in fast jeder Situation positive Aspekte. Natürlich verstehe ich, dass es Momente gibt, in denen man wirklich traurig ist. Als zum Beispiel mein Vater vor vier Jahren gestorben ist, das war wirklich schlimm. Man muss das annehmen, man muss trauern. Das ist ganz natürlich und das sollte man tun. Aber so generell, in den meisten Momenten, in denen wir eine Tragödie konstruieren, ist es einfach nur ein extrem großes Kommunikationsproblem, weil Leute zu stolz sind, um miteinander zu reden. Viele Familiendramen sind genau darauf zurückzuführen, einfach nur, weil man den Standpunkt der anderen Person nicht sehen will und zu stur ist. Es findet kein Gespräch statt. Verdammt, jetzt bin ich schon wieder abgeschweift…

Stimmt…

Aber das liegt einfach daran, dass ich es großartig fände, wenn ich Menschen ein wenig dazu inspirieren könnte, die Welt aus einer positiven Perspektive wahrzunehmen. Mir scheint es manchmal, dass genau das fehlt. Ich weiß, das klingt jetzt kitschig…

So kitschig klingt das für mich gar nicht.

Ich denke, das Leben ist tatsächlich kitschig, direkt und einfach. Zum Beispiel, wenn man sagt: ich mag diese Blume. Kinder können das sehr gut. Sie müssen es nicht hinterfragen. Sie können einfach glücklich sein, weil schönes Wetter ist und die Sonne scheint. Diese positive Sichtweise müssen wir wieder lernen. Das ist Arbeit. Ich habe da auch viel an mir selbst gearbeitet. Ich meine, ich hatte Depressionen und das verfolgt mich manchmal immer noch. Viele Leute sagen oft zu mir: Du bist so positiv, Du hast ja keine Ahnung wie es ist. Oh, doch, ich weiß wie es ist. Ich hatte wirklich sehr dunkle Momente. Aber ich habe versucht, an mir zu arbeiten, um positiv zu sein. Und ich denke, dass das gerade in der heutigen Gesellschaft wichtig ist. Es ist heutzutage „in“, negativ zu sein und Angst zu haben. Die Nachrichten und die Werbung tun einen großen Teil dazu, uns in diesem Zustand zu bestärken. Ängstliche und negative Menschen sind viel leichter zu manipulieren, weil sie alles tun werden, um die Angst loszuwerden. Aber in vielen Fällen ist diese Angst eben nur eine Illusion.

Das ist doch ein wunderschöner Schlusssatz. Vic, ich danke Dir für dieses wunderbare und ehrliche Gespräch. Das waren eine Menge tiefsinniger Gedanken.

Bitte – ich habe jede Menge davon. [lacht] Ich hoffe, dass es nicht zu ausufernd war. Aber ich denke wirklich viel über diese Dinge nach. Es ist wichtig, in dieser verrückten Welt nicht verrückt zu werden.

Florian Hessler

Über Florian Hessler

Archäologe, Historiker und freier Journalist (u.a. Zillo Medieval, Sonic Seducer, Miroque, Metal-District, Piranha) floh.hessler(at)schubladenfrei.de
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