Seit ihrem Ausstieg bei THE GATHERING vor neun Jahren hat ANNEKE VAN GIERSBERGEN keineswegs die Hände in den Schoß gelegt, sondern blieb als Solokünstlerin aber auch durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen Musikern und Bands sehr präsent in der europäischen Musikszene. Wir trafen die sympathische Niederländerin im Rahmen ihrer letzten Akustik-Tour vor dem Konzert in Berlin. Ein Gespräch über alte Lieder, neue Projekte und die Sache mit den Schubladen.
Seit Du THE GATHERING verlassen hast, hast Du mit unzähligen anderen Musikern zusammengearbeitet. Was macht die Kooperation mit anderen Künstlern für Dich so interessant?
Ich liebe es einfach mit verschiedenen Leuten zu arbeiten, weil ich dabei viel lerne. Von jedem anderen Sänger, Produzenten oder Songschreiber lernt man neue Dinge über Musik aber auch über sich selbst, als Performer, Sänger oder Musiker. Ich fühle einfach, dass ich dabei wachse, als Mensch und als Musiker. Bei THE GATHERING gab es dafür niemals Zeit, wir waren immer beschäftigt. Wir waren als Band ein wenig größer und bekannter und das beanspruchte eine Menge Zeit, Energie und auch Fokus. Als ich ausstieg, schien plötzlich jeder zu denken: vielleicht hat sie jetzt Zeit und eine Menge Leute wie MOONSPELL, WITHIN TEMPTATION und andere fragten mich – alle auf einmal – ob ich nicht Lust hätte einen Song oder einen Auftritt mit ihnen zu machen. Ich glaube ich habe zu 80 Prozent der Anfragen ja gesagt. Ich fühlte mich wie ein Kind im Spielzeugladen. Ich habe viele Dinge in einer ziemlich kurzen Zeit gemacht, aber das gab mir das Gefühl, dass ich noch mehr wachsen konnte. Mit THE GATHERING habe ich auch eine Menge gesehen und eine Menge gemacht, aber das war einfach anders.
Deine Vielseitigkeit und Offenheit war ein Grund dafür, warum wir gerne dieses Interview führen wollten. Unser Magazin heißt ja „Schubladenfrei“ und das Konzept dahinter ist entstanden, nachdem eine Kollegin, mit der ich bei verschiedenen Online- und Printmagazinen zusammengearbeitet hatte, und ich festgestellt haben, dass wir von den dort oft sehr festgelegten und starren Genregrenzen mehr und mehr frustriert waren. Manchmal schreibt man für ein Metal-Magazin und hat aber eigentlich gerade viel mehr Lust, über brasilianischen Electro-Jazz zu schreiben, weil man da eine tolle Band oder ein tollen Künstler entdeckt hat, der einen fasziniert. Also haben wir gemeinsam beschlossen, unseren eigenen Internet-Kultur-Blog ins Leben zu rufen, auf dem wir über genau das schreiben, was uns gerade gefällt.
Das ist großartig! Ich habe das noch nie gehört, dass es eine derartige Plattform gibt. Ich meine, ich kenne diese ganzen Alternative-Magazine, und die haben ja schon einen ziemlich breiten Ansatz. Aber Ihr gebt dem ganzen wirklich einen Namen. Also so nach dem Motto: Wenn Ihr zum Beispiel einen neuen Jazz-Künstler entdeckt, dann schreibt Ihr einfach darüber?
Ungefähr so, ja.
Das ist so cool. Weil, wie Du schon gesagt hast, am Ende geht es um die Musik. Es geht darum, etwas Gutes zu finden. Klar geht es dabei auch um Euren Geschmack, aber es geht auch darum, wie man sich gerade fühlt. Ich meine, wenn Du morgens aufwachst, spielst Du RAMMSTEIN und am Abend, wenn Du ein Glas Wein trinkst, kannst Du Mozart hören, weil Deine Gefühle einfach variieren, je nachdem was Du gerade erlebst.
RAMMSTEIN höre ich gerne, wenn ich den Abwasch mache.
Ja, genau, beim Staubsaugen oder beim Autofahren. Perfekt! [lacht] Ich höre viel Metal, wenn ich im Auto sitze. Ich mag die harten Sachen von DEVIN TOWNSEND, MASTODON und die neue von AMORPHIS höre ich auch oft. Alles im Auto. Wenn ich zuhause bin, höre ich Vinyl. Ich habe einen neuen Plattenspieler, der steht in der Küche, und wenn ich koche oder was im Haus mache, höre ich viele meiner alten Platten, zum Beispiel STING oder DONNA SUMMER. Ich habe die neue MASTODON auch als Vinyl, die höre ich auch ab und zu, aber meistens ist es Zeug aus den 80ern, weil es einfach da ist.
Zurück zum Thema Kooperationen: Eine Deiner letzten war die CD „Verloren Verleden“, die Du zusammen mit der isländischen Gruppe ÁRSTÍÐIR gemacht hast. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Ich war als Opener für PAIN OF SALVATION auf deren Akustik-Tour – ich glaube es war 2013, aber ich kann mich irren – und ÁRSTÍÐIR waren der zweite Opener. Das Coole war, dass PAIN OF SALVATION vorschlugen, dass nicht nur jeder seine eigene Show spielt, sondern wir auch Sachen zusammen machen, damit es keinen Break zwischen den Bands gab. Also habe ich zum Beispiel einen Song mit ÁRSTÍÐIR gespielt, dann ÁRSTÍÐIR einen mit PAIN OF SALVATION, dann ich zusammen mit PAIN OF SALVATION und so weiter. Es war einfach nur ein großer Abend voller Musik. Dadurch habe ich ÁRSTÍÐIR nicht nur getroffen auf dieser Tour, sondern wir haben auch sofort zusammen gespielt. Die Jungs sind einfach so großartig und ihre Musik ist so schön, das hat bei mir sofort den Gedanken ausgelöst, hey, mit denen würdest Du nach der Tour gerne mal etwas zusammen machen. Aber wie das oft so ist, es kam nicht dazu, erst ein paar Jahre später. Ich wollte immer schon etwas mit klassischer Musik machen, aber die Idee von mir zusammen mit einem Orchester erschien mir ausgelutscht, das wurde schon so oft gemacht. Das wäre kein musikalischer Gewinn gewesen. Aber ich wollte einfach gerne Klassik singen und dann kam ich auf die Idee, dass es etwas wirklich Besonderes werden könnte, wenn ich ÁRSTÍÐIR frage, diese klassischen Stücke und Folksongs für mich zu arrangieren. Was soll ich sagen – sie haben es gemacht und es ist unbeschreiblich schön geworden, dank ihnen. Und es ist in fünf Sprachen! Ich habe ein wenig isländisch gelernt, das war großartig, und etwas davon ist auch auf Deutsch.
Wie hast Du die Stücke für das Album ausgewählt?
Ich hatte ein wenig Hilfe von einem holländischen Moderator, der eine Klassik-Sendung im Fernsehen macht, in der ich ein paar Mal zu Gast war. Er versucht, klassische Musik auch für jüngere Menschen hörbar zu machen, die sonst nichts mit Klassik am Hut haben. Er ist der Meinung, dass sie es lieben, wenn sie nur einen entsprechenden Zugang finden. Eine wirklich coole Show. Und als ich dann die Idee mit der Klassik-CD hatte, habe ich ihn gefragt, ob er mir bei der Tracklist helfen kann, weil er da so ein umfangreiches Wissen hat. Als wir dann die Stücke beisammen hatten, habe ich sie ÁRSTÍÐIR gegeben und sie haben sie entsprechend bearbeitet.
Warum seid Ihr mit der Tour nicht auch nach Deutschland gekommen? Viele Leute hier hätten das bestimmt auch gerne gesehen.
Ja, ich weiß. In Holland haben wir eine ausgedehnte Theater-Tour gemacht. Das ist etwas, dass ich übrigens sonst kaum mache. Das war meine erste große Theater-Tour und ich wusste nicht, dass es ein so großer Erfolg werden würde, um ehrlich zu sein. Ich dachte, okay, das ist ein Projekt, wir spielen ein paar Shows und dann nehme ich die nächste Sache in Angriff, so wie ich es immer mache. Aber im Moment bin ich ja auch mit THE GENTLE STORM beschäftigt und beides, also GENTLE STORM und dieses Projekt mit ÁRSTÍÐIR wurde erfolgreicher, als ich erwartet hatte. Das hat mich ein wenig überrascht.
Das solltest Du nicht sein.
Danke. Ja, und es ist ja auch gut, dass es so ist. Aber ich hasse es, das jetzt so abschneiden zu müssen. Das Jahr ist schon so voll mit Shows und Bookings, dass es keine Chance gab, das Ganze noch einmal aufzunehmen und eine Europa-Tour zu machen. Und bei ÁRSTÍÐIR ist es dasselbe, sie sind auch selbst gerade auf Tour.
Ich weiß, sie waren letzten Sonntag in Berlin. Ihr habt Euch knapp verpasst.
Ja, stimmt. Aber so geht es mir im Moment mit all meinen Freunden. Ich weiß nicht, ob Du PETTER CARLSEN kennst, das ist ein norwegischer Sänger und Songschreiber, ein wirklich guter Freund von mir. Und er ist morgen hier in Berlin. Wir huschen gerade alle irgendwie umeinander herum.
Gibt es die Chance, dass Ihr die „Verloren Verleden“ – Tour vielleicht in der ferneren Zukunft noch einmal aufgreift?
Vielleicht.
Ich denke, dass es viele Menschen hier wirklich gerne sehen würden. ÁRSTÍÐIR sind in Deutschland gerade auch ziemlich populär.
Ja, ich weiß. Ich habe das online ein bisschen verfolgt, sie spielen vor vollen Hallen. Aber um ehrlich zu sein, im Moment lege ich meinen Fokus auf ein neues Metal-Album, das 2017 herauskommen wird. Daran schreibe ich gerade. Und… ich wische sozusagen momentan meine Projekte-Schiefertafel sauber. Das ist wirklich das erste Mal, dass ich das tue, aber ich leere meine Agenda zum Anfang des nächsten Jahres, um mich wirklich komplett auf das neue Album zu konzentrieren. Denn normalerweise mache ich eine Tour, dazwischen schreibe ich und während ich schreibe, denke ich schon wieder über andere Ideen nach und bringe neue Dinge auf den Weg, die ich dann vielleicht ein halbes Jahr später machen werde. So gesehen arbeite ich eigentlich immer an drei bis vier Projekten gleichzeitig. Das heißt auch, dass ich seit zehn Jahren eigentlich permanent müde bin. Deshalb musste ich einfach eine Entscheidung treffen. Ich werde mich aufs Touren mit der soften, akustischen Musik, die ich liebe, und auf die härteren Dinge, wie THE GENTLE STORM und das neue Prog-Album, die ich ebenfalls liebe, konzentrieren. Und nichts dazwischen. Also, ich versuche es zumindest. [lacht]
Ich drücke Dir die Daumen, dass das funktioniert. Und natürlich freue ich mich auch, dass Du wieder mal was härteres machen wirst. Eigentlich hast Du mir damit schon meine Abschlussfrage beantwortet, denn die ist immer die nach dem kommenden Plänen und Projekten. Dann wird die letzte Frage eine andere werden: Du spielst, gerade bei Deinen Akustik-Konzerten, immer wieder alte GATHERING-Songs. Hast Du es jemals bereut bei THE GATHERING ausgestiegen zu sein?
Nein.
Dann lass mich anders fragen: Wie ist Dein Verhältnis zu diesen Songs heute? Was bedeuten sie Dir?
Sie bedeuten mir sehr viel. Wirklich! Am Anfang, als ich gerade ausgestiegen war, dachte ich, ich ziehe jetzt mein eigenes Ding durch. Denn weißt Du, ich schaue so gut wie niemals zurück. Ich gehe immer vorwärts. Ich schaue mir auch keine Youtube-Videos von mir selbst an, weder von gestern noch von vor zehn oder zwanzig Jahren. Ich lese auch keine Reviews oder solche Sachen. Ich mache einfach. Als ich gerade aus der Band ausgestiegen war, war mir klar, dass viele Leute auf meinen Solo-Konzerten die alten GATHERING-Lieder hören wollten. Aber ich musste mich erst einmal davon lösen und etwas eigenes aufbauen. Und jetzt spiele ich schon seit Jahren wieder alte GATHERING-Songs und sie werden immer wichtiger. Es hat eine lange Zeit gedauert, festzuschreiben wer ich wirklich bin. Auch für die Leute, fürs Publikum. Denn natürlich bekomme ich jeden Tag Fragen oder im Internet schreibt irgendjemand irgendwo, dass ich zu THE GATHERING zurückkehren sollte. Das ist okay für mich, denn ich weiß, wie viel einem Musik bedeuten kann, auch in Form einer bestimmten Band. Ich verstehe das. Aber ich fühle mich jetzt, als Solokünstlerin, frei diese Lieder wieder mit viel Liebe zu spielen. Verstehst Du, was ich meine? Vor allem in der akustischen Form, wenn man auch darüber spricht und die Leute jetzt direkt vor mir stehen und fragen, ob ich nicht etwas von THE GATHERING spielen würde, dann kann ich das wieder mit viel Liebe tun. Und mit viel Stolz, denn ich bin super stolz darauf, was wir zusammen gemacht haben.
Ich denke, das kannst Du auch sein. Ich bin selbst ein alter Fan, ich glaube, ich habe Dich vier mal mit THE GATHERING gesehen. Ich mag die alten Songs immer noch sehr gerne.
Wow. Das ist toll. Und ich liebe es, dass Leute wie Du und viele andere immer noch da sind und sich immer noch dafür interessieren, was ich mache, nach so vielen Jahren. Das ist wirklich erstaunlich. Es gibt so viel neue Musik und es passiert so viel da draußen, dass ich es wirklich als Segen empfinde, dass sich immer noch so viele Leute fragen, was ich als nächstes mache und kommen, um mich spielen zu sehen.
Es ist immer wieder ein Vergnügen. Vielen Dank für dieses Interview!