Rudolstadt-Festival, 04.-07.07.2024 – der Bericht

Und jedes Jahr lockt der Saalestrand. Das Rudolstadt-Festival, formerly known as “Tanz- und Folkfest”, ist europaweit für alle Freunde der Folk- und Welt-Musik seit Jahrzehnten eine feste Größe im musikalischen Jahreskalender. Auch diesmal versammelte Deutschlands größtes Genrefestival wieder hochklassige Musiker*innen und Gruppen aus aller Welt in der Stadt am Fuß der Heidecksburg.

Roots-Reggae und hypnotische Dudelsäcke

Los ging es dann auch direkt mit einem Hochkaräter, denn das Auftaktkonzert bestritt in diesem Jahr JULIAN MARLEY. Da kann man nur völlig zu Recht sagen: der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum, denn da wurde vom Vater einiges an Talent geerbt. Wunderbarer Roots-Reggae, mit dem man sich aufs Feinste ins Festival schaukeln konnte. Als Kirschen auf der Torte gab es natürlich auch ein paar Hits von Papa, darunter mit „Jammin‘“ einen meiner persönlichen Lieblings-Marley-Songs. Perfekter Start ins Wochenende.

Dass der erste Abend aber gleich einen ersten wirklichen Knaller bereithalten würde, hatte ich höchstens geahnt. Zumindest aber hielt mich diese Ahnung so lange im Heinepark zurück, bis NOON zum Abschluss des ersten Tages um ein Uhr morgens die große Bühne enterten. „Hypnotisch“ wäre wohl der beste Ausdruck, um das zu beschreiben, was die fünf Bretonen da auf die Bühne zauberten. Der geballte Wumms von vier Dudelsäcken, gepaart mit elektronischen Beats und Effekten sog einen förmlich ein und so wurde aus dem Vorsatz des „mal reinhörens“ im Handumdrehen ein „huch, die Sonne geht gleich auf“.

Gottseidank beginnt das Festivalprogramm am Freitag erst am Nachmittag und es begann gleich mit dem nächsten Highlight:

Die spinnen, die Australier und NDW 2.0

Das wäre wohl die treffendste Beschreibung der UKULELE DEATH SQUAD. Beim Prä-Festival-Probehören hatte ich die achtköpfige Extravaganz aus Down Under noch unter „ganz nett“ abgeheftet, das änderte sich live allerdings binnen Minuten. Das kann man nicht einfach nur hören, das muss man erleben. 

Das Scenestr Magazine schreibt über die Band: „Es ist, als hätte Tarantino eine reisende Mariachi-Band getroffen und ihr das Punk-Ethos von The Saints eingeflößt, mit einem Hauch von Folk und Flamenco. Weltmusik hat noch nie so funky geklungen.“ Addiert man dazu noch ein wenig Ska, Jazz, Pop und Rock, wunderbaren Harmoniegesang , jede Menge queeren Glitzer und eine gehörige Dosis Verrücktheit, dann kommt man vielleicht in etwa in die Nähe von dem, was da auf der großen Bühne der Heidecksburg passierte. Dass sich Matthew, Ash, Reuben, Alice, Steph, Julian, Nacho und Eamonn backstage dann auch noch als absolut liebenswerte Knutschkugeln herausstellten ist definitiv nicht der einzige aber durchaus mit ein Grund, warum wir die Band zur schönsten Neuentdeckung des diesjährigen Festivals gekürt haben. Baby don’t you fuck with me!

Nach dem großen Känguru-Kino auf der Burg war der Tag jedoch noch lange nicht vorbei. Das zweite Highlight des Tages lieferte dann PAULA CAROLINA beim Abendkonzert im Heinepark. Die gebürtige Hannoveranerin und Wahl-Mannheimerin hat mit „Schreien!“ nicht nur die neue Berlin-Hymne (!) geliefert, sondern mit „Angst frisst Demokratie“ auch gleich den passenden Soundtrack zu den zahlreichen Anti-AFD-Demos, die nach dem Auffliegen des Potsdamer „Remigrationstreffens“ im xxx landesweit stattfanden. Natürlich ist der Sound von PAULA CAROLINA ganz klar stark in der „Neuen Deutschen Well“ der 80er verwurzelt, aber niemals bloße Kopie, sondern wunderbar auf das hier und jetzt adaptiert. Und ja, es drängen sich vergleiche zu einer jungen NENA auf, aber die Musik und Texte von PAULA CAROLINA sind nicht nur zeitgemäßer, sondern (sorry liebe Schwurbel-Omi) auch besser. Dass sie mit ihren Songs den Nerv einer ganzen Generation trifft, ließ sich an der Stimmung an der großen Heineparkbühne an diesem Abend gut ablesen. Von wegen „Kein Bock auf die Party“…

Ethnofolkwitchpop und leise Momente

Auch der Samstag bot Höhepunkte satt. Dazu zählte für uns auch und vor allem das Programm auf dem Marktplatz am Abend, aber es gab auch Hörenswertes abseits der großen Bühnen. Einen solchen Act fanden wir unter der Rubrik „Straßenmusik“. KLANGZEIT ist ein Duo, bestehend aus Marie-Josefin Melchior an Geige und Gitarre und Johann Zeller am Akkordeon, dessen (welt-)musikalische Bandbreite von Csárdás über Klezmer und Musette bis Tango reicht. Das Ganze sehr sympathisch dargeboten in der idyllischen Atmosphäre des Schillergartens, wo man vom großen Festival-Trubel so gut wie gar nichts mitbekommt. Auch solche Momente machen Rudolstadt immer wieder besonders.

À propos besonders: Auch als wegen einer offiziellen Unwetterwarnung am Samstagnachmittag das Programm für eine Dreiviertelstunde unterbrochen werden musste, Das Publikum suchte sich einfach irgendwo ein trockenes Plätzchen, gerne genommen waren hier etwa Toreinfahrten, und um die Zeit zu überbrücken, kam es in diesen „Notunterkünften“ vielfach zu Spontansessions oder gemeinsamen Gesangseinlagen. That’s the spirit!

Am Abend war das Gewitter dann schon lange vergessen und wie schon gesagt, war es das Geschehen auf der Marktbühne, das uns ein paar unvergessliche Eindrücke beschert hat. Einen solchen besonderen Moment gab es etwa beim Auftritt der HENHOUSE PROWLERS aus Kananda. Diese boten nicht nur Bluegrass vom Feinsten, sondern luden in der Mitte des Sets ihren Freund DAVID LÜBKE, der mit seinem Trio ebenfalls auf dem Festival gastierte, auf die Bühne. Gemeinsam stimmten sie den alten Hannes-Wader-Klassiker „Heute hier morgen dort“ an, den natürlich auch viele im Publikum textsicher mitsingen konnten. Gänsehaut.

Einmal eingestellt, hat uns die Hühnerpelle den ganzen weiteren Abend nicht mehr verlassen. Dafür zeichneten im Folgenden zunächst die Damen von TAUTUMEITAS verantwortlich. Das Sextett schöpft seine Melodien und Texte aus der reichhaltigen Tradition lettischer Volkslieder und verbindet diese mit zeitgenössischen Klängen. Man könnte, so man denn Schubladen bemühen möchte, die Musik der Lettinnen als „Ethnofolkwitchpop“ einordnen, was auch immer derartige Wortungetüme aussagen können. Die gelungene Fusion aus alt und neu betört musikalisch vor allem durch den mehrstimmigen Gesang und optisch durch die folkloristischen Kostüme und Kronen und die choreographischen Elemente der Bühnenshow. Nachdem dazu dann noch Verspieltheit, Energie, Charme und jede Menge guter Laune kamen, ist es kein Wunder, dass die sechs es schafften, auch das Rudolstädter Publikum binnen kürzester Zeit um den Finger zu wickeln. Traumhaft schön!

Das Highlight des gesamten Tages, zumindest für den Verfasser, geht am Samstag ganz klar an einen weiteren sehr leisen Moment, wenn auch auf ganz großer Bühne. ÓME ist ein experimentelles Projekt aus Norwegen, das in einzigartiger Weise Musik und Tanz vereint. Sivert Holmen an der Hardanger Fiddle und die Tänzerin Silje Onstad Hålien agieren auf der Bühne zum Teil ineinander verschlungen in einem wunderbaren Wechselspiel aus Klang und Bewegung – pure Magie. Doch während für mich als Fotograf direkt am Bühnenrand das Erlebnis unheimlich intensiv, ja fast immersiv war, waren aus dem Publikum auch kritische Stimmen zu hören, da der Abstand für viele in den hinteren Reihen wohl doch zu groß war, um die Performance wirklich genießen zu können. Im Gespräch nach dem Auftritt berichtete Silje, dass dies tatsächlich auch der erste Auftritt mit dem Projekt auf einer Bühne dieser Größenordnung war. Dennoch, auch wenn vielleicht nicht alle Anwesenden die Performance in all ihren Nuancen genießen konnten, zog die Intensität der Darbietung den Großteil des Publikums auf dem Markt in ihren Bann. Ein großes Danke und Respekt an die Festivalmacher, dass Sie diesem Act den Raum als Headliner auf einer der Hauptbühnen gegeben haben! Und für alle, die das Ganze noch einmal in einem intimeren Setting erleben wollten, bot sich am nächsten Tag im Theater ja noch einmal die Gelegenheit.

Abschlussrevue und quietschfidele Rentner

Am Sonntag kommt beim Flanieren durch den Park oder die Gassen der Innenstadt meist schon ein bisschen Abschiedsschmerz auf und man beginnt, das Festival schon ein wenig Revue passieren zu lassen. Was hat man alles gesehen, was war toll, was hat man leider verpasst? Letzteres ist bei dem Wahnsinns-Umfang des Programms meist eine ganze Menge. Eine gute Möglichkeit, daran noch etwas zu ändern bietet die traditionelle Abschlussrevue, mit der das Programm auf der Marktbühne am Sonntagabend zu Ende geht, denn dort hat man die Gelegenheit, noch einmal ausgewählte Highlights des Wochenendes zumindest mit einem Kurzauftritt zu erleben. So konnten wir uns beispielsweise freuen, dann doch noch ein paar Eindrücke etwa des senegalesischen Kora-Virtuosen MOMI MAIGA oder der ukrainischen Band YAGODY zu erhaschen.

Die vielleicht größte, definitiv aber die witzigste Überraschung des gesamten Festivals aber wartete noch auf uns: der HEAVEN CAN WAIT Chor. Um Mitglied des 2013 gegründeten Gesangsensembles zu werden, muss man mindestens 70 Jahre alt sein. Das älteste Mitglied war zum Zeitpunkt des Auftritts 93. Nun sind ja Seniorenchöre durchaus keine Seltenheit, selten aber widmen sie sich der modernen Pop- und Rockmusik. So interpretierten die quietschfidelen Unruheständler unter anderem Songs von Sarah Connor, Mark Foster, Deichkind, Marteria oder SDP und rissen das Rudolstädter Publikum damit zu wahren Begeisterungsstürmen hin. Respekt vor soviel Respektlosigkeit und Lebensfreude!

Ebenfalls das Rentenalter erreicht haben inzwischen die Musiker von JAMS, und auch sie zeigten, dass sie noch lange nicht zum alten Eisen gehören. So konnte man beim definitiv letzten Konzert des Wochenendes noch einmal wunderbar in Nostalgie schwelgen und mit dem stimmungsvollen Auftritt der deutschen Folk-Legenden ein wieder einmal großartiges Festival bei einem Abschiedsgetränk ausklingen lassen.

In unseren Bildergalerien findet Ihr zahlreiche weitere Eindrücke vom Rudolstadt-Festival 2024!

Florian Hessler

Über Florian Hessler

Archäologe, Historiker und freier Journalist (u.a. Zillo Medieval, Sonic Seducer, Miroque, Metal-District, Piranha) floh.hessler(at)schubladenfrei.de
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