fe·ral [ˈferəl]
Englisch: wild, ungezähmt
Im letzten Jahr kam unser Redakteur Tom plötzlich mit einer Veranstaltung an, von der wir vorher noch nie gehört hatten. Kunststück, wie hätte man auch davon gehört haben können? Das Feral Folk Festival war ja gerade erst frisch aus der Taufe gehoben worden. In diesem Jahr gab es nun die zweite Ausgabe, deutlich gewachsen und mit neuen, aber auch vielen altbekannten Gesichtern.
Schwelgen in Erinnerungen
Tom erinnert sich: „Es war ziemlich genau vor einem Jahr, als ich auf Instagram auf eine Werbung für das erste Feral Folk Festival stieß. Ein neues Festival in meiner Stadt, da wollte ich gerne Zeuge der Entstehung sein. Das Gelände der Freilichtbühne Weißensee hat man bei dieser ersten Ausgabe noch quasi durch die Hintertür betreten, denn die gesamte Veranstaltung beschränkte sich auf den „Backstage“-Bereich. Eine kleine Bühne, vereinzelte Klappstühle, ein Foodtruck und jede Menge Atmosphäre an einem schönen Herbsttag.“
In diesem Jahr durften die Besucher den Haupteingang benutzen und die Musiker die sehr große Hauptbühne der Freilichtbühne. Mit der deutlich umfangreicheren Werbung in diesem Jahr (inkl. Radiointerviews und Erwähnung in der RBB Abendschau) gab es auch deutlich mehr Zuschauer.
Diese waren allerdings durch zeitgleich stattfindende Veranstaltungen, wie den „ZUG DER LIEBE“ mit erheblichen Störungen des ÖPNV bei der Anreise konfrontiert. So füllten sich die Ränge nicht so schnell wie man sich das hätte wünschen mögen.
And the Winner is – Denise Dombrowski
Gegründet und kuratiert wurde das Feral Folk Festival, wie schon im letzten Jahr, von den britischen Musiker*innen ROXY RAWSON und CAMERON LAING, dem Inhaber des „Famous Goldwatch Studios“. Da liegt es in der Natur der Sache, dass das Lineup sich aus mit dem Studio assoziierten Künstler*innen zusammensetzt. Man hatte den Eindruck, dass da nicht nur einzelne Künstler*innen auf der Bühne standen, sondern vielmehr ein großes Musiker*innen-Kollektiv, eine große Familie in immer wieder wechselnder Besetzung. Da hörte man etwa LOTTA ST. JOAN, die im letzten Jahr noch als Solo Artist performte, als Teil der neuen Formation DAISY BLIND MAN. Deren zweite Sängerin MONE tauchte dann noch einmal bei KIKI ANNETTE am Bass auf. Catalina Ciortea, die Bassistin von ELSDEER, fand man am Ende in der Band des Headliners JAMES MICHAEL RODGERS wieder. ELSDEER wiederum ist der Künstler*innenname der Geigerin Denise Dombrowski, der an diesem Tag definitiv der Award für die meiste Stagetime gebührte, denn sie stand nicht nur mit ihrer eigenen Band, sondern vorher bereits mit ROBERT JOHN HOPE und RUFUS COATES & JESS SMITH auf der Bühne. Aber nun mal der Reihe nach:
Highlight gleich am Anfang
Den Auftakt in diesem Jahr machte MARLA MOYA. Und was für ein Auftakt war das! Die Künstlerin, die alleine, nur mit ihrer Gitarre auf der Kante eines großen Wohnzimmersessels in der Mitte der großen Bühne saß, zog das Publikum innerhalb kürzester Zeit in ihren Bann. Die warme Stimme und die wunderschönen Songs der gebürtigen Kanadierin weckten mehr als einmal Erinnerungen an JOAN BAEZ. Auch wenn noch jede Menge gute Musik folgen sollte, war der Auftritt von MARLA MOYA für uns auf jeden Fall ein, für Floh sogar der Höhepunkt des Festivals. Schade, denn zu diesem frühen Zeitpunkt war die Menge der Anwesenden noch recht überschaubar, was sicherlich auch der schon geschilderten Verkehrssituation zu verdanken war. Das hätte mehr verdient gehabt!
Liegt die Würze wirklich in der Kürze?
Der Eindruck des grandiosen Auftaktkonzerts hallte noch gehörig nach, so dass das folgende Konzert dadurch bei uns beinahe ein wenig unterging. Gefühlt hatten wir uns kaum vom Eindruck des vorherigen gelöst, war der Auftritt von ROBERT JOHN HOPE fast schon wieder vorbei. Das lag allerdings durchaus auch an den ob der Menge der auftretenden Acts extrem kurzen Slots – pro Band standen nur 25 Minuten Spielzeit zur Verfügung. Schade, denn den rockigen Folkballaden des ehemaligen Frontmanns der irischen Indie-Band SENAKAH hätten wir in der Rückschau gerne aufmerksamer gelauscht.
Während sein Vorgänger eher dem traditionellen Teil des Genres zugerechnet wird, gilt der ebenfalls von der grünen Insel stammende Songwriter Connor KILKELLY als Vertreter des Anti-Folk. Entsprechend ging es musikalisch ein wenig schräger zur Sache. Wenn man Vergleiche hinzuziehen wollte, könnte man etwa NICK CAVE oder TOM WAITS anführen, die einzigartige stimmliche Prägnanz dieser Acts erreichte KILKELLY jedoch nicht ganz.
Auch die Musik von „Hausherrin“ ROXY RAWSON wird meist dem Anti-Folk Genre zugerechnet und ihre Stimme gern mit Künstlerinnen wie KATE BUSH oder JONI MITCHELL verglichen. Die Künstlerin überzeugte jedoch nicht nur mit hohen Tönen, sondern beeindruckte mit einer insgesamt großen Vocal Range. Auch die Songs der nach Stationen in Paris und San Francisco nun in Berlin lebenden Britin spiegelten jede Menge unterschiedliche Einflüsse, von ihrer klassischen Ausbildung über Jazz, afrikanische Chor-Musik bis Americana. Damit erinnerte das Ganze mal an FLORENCE AND THE MACHINE, mal an REGINA SPEKTOR und mal an TORI AMOS, ohne dass man jedoch einen wirklichen Vergleich hätte ziehen können, denn Roxy schafft es mühelos, all diese Elemente (und noch einige mehr) zu ihrer ganz eigenen Stilistik zu verschmelzen. Ein großartiger und dabei sehr sympathischer Auftritt, der leider auch viel zu schnell vorbei war. Da hätte man sehr gerne länger zugehört.
Dark Folk mit rosa Socken
Der nächste Act stach schon rein optisch heraus. Der Ire RUFUS COATES beeindruckte mit wirrer Wuschelmähne und einem beeindruckenden, grauen Rauschebart. Gekleidet war er, genau wie seine Partnerin, passend zum Dark Folk Stil der beiden, ganz in Schwarz. Oder zumindest beinahe, denn die knallig pinken Socken von Sängerin JESS SMITH stachen als Gegensatz zu dem düsteren Outfit sofort ins Auge. Stilistische Brüche wie diese Fußbekleidung oder zumindest ein bisschen mehr Abwechslung hätte man sich auch in der Musik der beiden gewünscht, denn wo die melancholischen Klangteppiche, die die beiden woben, mich bei den ersten Stücken noch durchaus gefangen nahmen, wurde es über die Zeit doch ein wenig monoton, da die Stücke einander dann doch sehr glichen.
Nachdem sie wie schon erwähnt bereits bei zwei vorhergehenden Acts mit auf der Bühne stand, war es nun endlich an der Zeit für Denise Dombrowski mit ihrem eigenen Projekt ELSDEER zu glänzen. Während man sie bei den Gastauftritten an der Violine erleben konnte, waren es hier klar Gitarre und Vocals, die im Vordergrund standen. Die ätherische Qualität der Songs und von Denises Stimme erinnerten zeitweise an die Musik des dänischen Duos LINEBUG, ein Vergleich, der sich um so mehr aufdrängt, wenn man sich einige Videos der Band ansieht.
Und jährlich grüßt das All-Star-Projekt
Die bereits anfangs angesprochenen Sängerinnen LOTTA ST. JOAN und MONE waren bereits im letzten Jahr Teil des Festivals, Lotta auch als Solo Artist und beide zusammen als Teil des SIRENS UNLEASHED Projekts. Nun konnte man sie mit dem nächsten All-Star-Projekt erleben. Bei DAISY BLIND MAN waren aber nicht nur diese beiden mit von der Partie, hier saß Mr. Famous Gold Watch CAMERON LAING höchstselbst am Keyboard. Dass es sich um den ersten Live-Auftritt dieser Formation handelte, konnte man den Beteiligten nur kurz anmerken, denn vor allem das Zusammenspiel der beiden Stimmen entfaltete bald schon eine beinahe magische Atmosphäre. Hoffentlich bleibt das Konzert keine Eintagsfliege – Bitte, bitte viel mehr davon!
Frauenpower made in Holland
Die nächste Künstlerin, KIKI ANNETTE, war ebenfalls bereits im letzten Jahr dabei. Da noch im Nachmittagsprogramm, allein mit einer Gitarre auf der Bühne, kam die Holländerin diesmal mit kompletter Band als Co-Headlinerin zurück – ein Status dem sie mehr als gerecht wurde. Da hätte es Camerons Ansage „A superstar in the making” gar nicht gebraucht. Das rothaarige Powerbündel rockte die Bühne, dass die Fetzen flogen.
Die Stimmung ebbte dann auch beim Headliner JAMES MICHAEL RODGERS kaum ab.
Es war sehr schön zu erleben, dass sich die Atmosphäre des Vorjahres, die eher an eine Gartenparty bei Freunden erinnerte, sich auch auf die große Bühne übersetzen ließ. Dabei war neben der beschriebenen, sicht- und spürbaren Verbundenheit der Musiker*innen sicher auch die Bühnen-Deko, mit alten Stehlampen, Teppichen und Polstermöbeln ein wichtiger Baustein, der für eine gemütliche und entsprechend familiäre Wohnzimmer-Atmosphäre sorgte und einen Hauch von Woodstock verbreitete.
Natürlich ist bei einigen Dingen noch Luft nach oben, etwa beim gastronomischen Angebot, dass sich auf eine vegetarische Bowl, Hot Dogs und Waffeln beschränkte, von denen zuerst die fleischhaltigen Hot Dogs ausgingen, kurz darauf waren auch die veganen Würstchen alle und schließlich auch die Waffeln. Blieb die Kichererbsen-Spinat-Bowl, die zwar wirklich sehr lecker war, aber ein wenig mehr Auswahl wäre schön gewesen. Auch was die Größe des Publikums angeht, könnte es noch ein wenig mehr werden, auch wenn, wie uns Roxy stolz erzählte, sich die Besucherzahl im Gegensatz zum ersten Jahr mehr als verdoppelt hat. Allerdings fasst das Rund der großen Freilichtbühne ca. 2000 Zuschauer*innen, da wirken 700 Menschen dann trotzdem noch ein wenig verloren. Aber wenn das Festival diese Wachstumsrate beibehält, wird es spätestens im nächsten Jahr schon nicht mehr so leer aussehen, in zwei Jahren würden dann schon die Tickets knapp. Zu wünschen wäre es dem Festival! Wir freuen uns jedenfalls schon auf die hoffentlich stattfindende, dritte Ausgabe im nächsten Jahr!
(Tom Rehbein / Floh Hessler)



















































































































